Mainacht

von Thekla Merwin (1887–1944)

Es rauscht der Mai in meinem Traum,
Ein Vogel singt in hellen Nächten,
Voll Blüten steht der alte Baum,
Es rauscht der Mai in meinem Traum,
Der Mond hängt in der Weide Flechten.

Uralter Erde ewiges Spiel,
Du bleibst die Junge, doch wir altern.
O sing dein Lied, so stark und schwül,
Uns Menschen gabst du kurzes Ziel,
Das Los von Mücken und von Faltern.

Wie süß und mild die Blumennacht!
Gewaltige Sehnsucht, längst versunken,
Steigt heiß empor mit neuer Macht.
Ich atme tief, mein Herzschlag wacht,
… Die junge Frühlingsnacht ist trunken!

Und was ich atme – roter Wein!
So rauscht wie eine wundervolle
Musik der Mai durch Sinn und Sein.
… O Menschen, lasst uns Brüder sein,
Bevor uns deckt die dunkle Scholle!


Textnachweis
Aus: Arbeiter Zeitung, 16. Mai 1926, S. 17. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Ein Frühlingstag

von Thekla Merwin (1887–1944)

Gegen Ende März erwachte der Adjunkt Peter Adolf Wagner dadurch, dass der Windstoß einen schlecht befestigten Fensterflügel mit voller Wucht aufstieß. Es war halb fünf Uhr morgens und helllichter Tag. Der Himmel zeigte eine sanfte Röte, die stellenweise in Lila übergegangen war. Aber fern am Horizont türmten sich dunkle Wolken auf und schlossen den hellen Teil wie mit einem schwarzen Vorhang ab. Die Bäume standen noch nackt, aber ihre Kontur im scharfen Lichte zeichnete sich klar und freundlich ab. Dem ersten Windstoß folgten bald andere, und eine Welle kalter Luft kam ins Zimmer, bis ans Bett, wo Peter Wagner wohlgeborgen lag. Er warf einen verdrießlichen Blick auf das Bett seiner Frau, das knapp neben seinem stand, aber da sich dort nichts rührte, erhob er sich seufzend, machte ein paar Sprünge zum Fenster, schloss den Flügel und legte sich dann fröstelnd zurück. Doch dann konnte er nicht wieder einschlafen. Eine eigentümlich helle Spannung hielt ihn wach. Einige Mal wälzte er sich vergeblich hin und her, dann gab er den Versuch zu schlafen endgültig auf und verfiel in Gedanken. Das war ein ungewohnter Zustand. Nachdem er alle in dieser Woche zur Erledigung gelangenden Fälle durchgedacht hatte, zeigte die auf dem Nachttisch stehende Uhr erst fünf. Das übliche Gedankenpensum war erschöpft, die Zeitung lag im Speisezimmer. Um nichts in der Welt wäre er jetzt wieder aufgestanden. Er lag warm da und langweilte sich. Endlich fiel sein Blick durch das Fenster. Ein Gewitter, jetzt im März? Dann erinnerte er sich eines Vorfrühlingsgewitters, das ihn als Studenten auf einer fröhlichen Wanderschaft mit mehreren Kollegen mitten auf der Landstraße überrascht hatte. Damit waren angenehme Erinnerungen verbunden, die er in sein Gedächtnis zurückzurufen sich bemühte. Sie waren damals gezwungen gewesen, auf einem großen Bauernhof Zuflucht zu suchen; und in seiner Erinnerung vermischten sich der Duft eines wunderbaren Selchschinkens mit der längst vergessenen Episode eines verliebten Abenteuers am Hofe. Ei, Jugend! Was für ein fescher Bursche er gewesen war!

Inzwischen rührte sich die Frau nebenan, wechselte schlaftrunken die Lage und glitt mit dem Kopfe bis an den Rand ihres Bettes. Er sah ihr Gesicht knapp vor sich. Infolge der unbequemen Lage schlief sie mit offenem Munde, schwer atmend. Das Haar war zerzaust, auf der linken Wange zeichnete sich lächerlicherweise das Häkelmuster des Kopfpolsters ab. Der Adjunkt betrachtete seine Frau mit großer Aufmerksamkeit, als sähe er sie zum ersten Mal. Es war das Gesicht einer zweiundvierzigjährigen Frau, deren Leben weder durch Überfluss noch durch Erlebnisse irgendwie verschönt worden war, die sich mit den täglichen, kleinlichen Sorgen des Haushaltes herumschlug, dazuschauen musste, wie sie mit vier Kindern fertig wurde, und die längst aufgehört hatte, jemand zu Gefallen zu leben. Von der Nasenwurzel bis in die Mundecken zogen sich zwei tiefe Falten, ein vorderer Zahn war stark schadhaft, daneben waren einige Plomben deutlich sichtbar. Die Stirn zeigte einfältige Runzeln, die von Sorgen, aber nicht vom Nachdenken stammten, die Haut am Halse bewegte sich schlaff bei jedem Atemzug. Lange betrachtete sie der Mann, dann fuhr es ihm durch den Kopf: Und ohne das habe ich mir einmal eingebildet, nicht leben zu können! Und mit einem plötzlichen Widerwillen wendete er sich ab. Diese Erkenntnis war mit irgendeinem wehmütigen Schmerz verbunden. Lange lag er ganz still und grübelte.

Er war sehr schlechter Laune, als er aufstand. Der Kaffee war zu kalt, der Anzug nicht gebürstet, die Zeitung wurde zu spät hereingebracht. Er war, wie die Kinder einmütig konstatierten, mit dem linken Fuß aufgestanden. Grollend verließ er das Haus, unausgeschlafen, als hätte er die Nacht getanzt. Die dunklen Wolken hatten sich inzwischen verzogen, ein klarer, blauer Himmel lachte, die Sonne schien warm und heiter. Er knöpfte sich den Überrock auf und rannte zur Station, denn er hatte sich wie gewöhnlich verspätet. Gerade fuhr der Stadtbahnzug in die Halle, und er sprang behände in den Waggon. Drinnen saßen die gewohnten Passagiere des Frühzuges, Arbeiter, Angestellte, ein paar Geschäftsleute. Der Zug sammelte an vielen Stationen die kleinen Bestandteile ein, die sich in das große, kreisende und kreischende Rad der Stadt alltäglich einfügten. Aber über allen verschlafenen Gesichtern lag heute der Abglanz der Frühlingssonne, wie eine ewig wiederkehrende, niemals ganz erlöschende Hoffnung. Gähnend nahm der Adjunkt Platz, gerade einem jungen Paar gegenüber. Und in diesen verkrampften Fingern, die sich pressten, lag etwas unangenehm Aufreizendes, so dass er missmutig den Blick abwendete. Gleichzeitig aber stieg in ihm die Vision eines Baches mit blühenden Ufern, eines kleinen, weißen Häuschens auf entlegener, sonnenbeschienener Halde empor. Eine Reihe lieblicher Bilder begleitete die dumpfe Melodie der rollenden Räder.

Im Büro überraschte ihn der Auftrag, in einer Enteignungssache mit tunlichster Beschleunigung nach B. zu fahren und auf dem Wirtschaftsbesitz des Lebrecht Waldhuber persönlich Erhebungen vorzunehmen. Das war wie in den seligen Gymnasialzeiten, wenn man die Schule schwänzen konnte. Ein Kollege übernahm die Mitteilung an Wagners Frau, dass dieser erst spät am Abend zurückkehren werde, und mit unerhörtem Diensteifer fuhr der Adjunkt, den Überzieher am Arm, in den sonnigen Tag hinaus. In B. angekommen, begann er nach dem Hofe des Waldhuber Erkundigungen einzuziehen. Oh, das war noch ein weites Stück ganz an der Reichsstraße.

Der Ochsenwirt, Fleischhauer und Hotelier in einer Person, erschien mit der blutbefleckten Schürze in der Haustür: Ob sich der Herr nicht noch früher stärken wolle? Ob der Herr nicht eintreten wolle?

Verflucht noch mal, das erste Viertel war gut. Beim zweiten Viertel kamen sie ins Gespräch. Der Wirt hatte seine Schürze abgelegt und präsentierte sich als ein wohlwollender Mann, der die Welt kannte. Der Waldhuber sei ein Schlaukopf, der alle hineinlege. Er solle vorsichtig sein, wenn es sich um ein Geschäft handle.

Der Adjunkt schwieg, rauchte, lächelte und fühlte sich wohl.

Eine halbe Stunde darauf war er auf dem Gehöft. Der Besitzer empfing ihn, die Mistgabel auf der Schulter, schimpfte auf die Regierung, ließ sich den Auftrag zeigen und erklärte, der erste Beamte, der zur Vermessung erscheine, werde von ihm eigenhändig mit dem Dreschflegel totgeschlagen. Der Herr Kommissär da sei ja kein zuwiderer Kerl, aber die Beamtenfratzen, die möge er nicht.

Zu einer andern Zeit hätte sich Wagner diesen Ton energisch verbeten. Aber der genossene Wein und der frohe Tag ließen Ärger überhaupt nicht aufkommen. Die Amtshandlung endete bei einem »Wachauer« und einem gediegenen Schweinernen in der guten Stube.

Die Sonne stand schon tief im Westen, als er wieder in den Zug stieg, wie in ein großes, breites flammendes Meer ergoss sie sich am Horizont. Rot, etwas gedunsen und etwas schwindlig »von der frischen Luft« lehnte der Adjunkt behaglich in einer Ecke. Nur zwei Personen waren außer ihm im ganzen Waggon anwesend, ein alter Mann, offenbar Arbeiter, der aus einer Pfeife qualmte, und in der Ecke gegenüber saß ein junges Mädchen, das einen Ullstein-Roman mit großer Aufmerksamkeit las. Übermut kitzelte den Adjunkten, der halb schlafend sich in seiner Ecke räkelte, so dass er schließlich die Frage wagte:

»Na, kriegen sie sich zum Schlusse?«

Das Mädchen ließ das Buch sinken, lächelte dann, als sie sein vergnügtes Gesicht sah, und antwortete, ohne zu zögern:

»Sie haben sich schon.«

»Gott sei Dank. Dann ist ja alles gut. Wohin fahren Sie, Fräulein?«

»Nach Wien. Ich bin Wienerin. Ich war nur bei einer Tante in B. zu Besuch.«

»So? Von da komm’ ich eben auch. Kennen Sie den Lebrecht Waldhuber?«

»Aber gewiss. Das ist ja mein ›Göd‹.«

»Ein fescher Karl. Der muss wohl nicht arm sein, was?«

»Na, arm ist er nicht, aber ein Geizkragen. Der könnte für einen Kreuzer einen erschlagen.«

So kam man ins Gespräch. Sie drückte sich möglichst gewählt aus. Sie hatte ein hübsches, rundes nichtssagendes Gesicht, schöne blaue Augen, ein kurzes, aber nicht übles Stumpfnäschen. Das Schönste waren ihre zwanzig Jahre, die machten auf Peter Wagner den größten Eindruck. Denn dass sie zwanzig Jahre alt war, das erfuhr er nach fünf Minuten. Sie war in Wien in guter »Kondition« und unterstützte sogar noch einen Bruder, der ein großer Haderlump war. Als der Zug im Südbahnhof einfuhr, überreichte ihr der Adjunkt den heruntergefallenen Roman, den sie beinahe vergessen hätte, so anregend war die Unterhaltung gewesen.

»Wenn ich nicht störe, begleite ich Sie ein Stück«, sagte der galante Adjunkt, dem sie immer besser gefiel, trotzdem er zuletzt die Angaben über ihr Alter für übertrieben bescheiden hielt.

»Ich gehe ganz gern, nach der dummen Fahrt tut einem Bewegung ganz gut.«

Hier wagte der Adjunkt bereits einen Witz, der trotz seiner Beschaffenheit mit einem Lächeln quittiert wurde.

Sie gingen in der Richtung zur Stadt. In einer winkligen Seitengasse, vor einer sogenannten Bar, schlug er, von Löwenmut besessen, plötzlich vor:

»Wollen wir da nicht eine Erfrischung nehmen, Fräulein?«

Sie war ohne weiteres einverstanden. Drinnen saßen in einem schlecht erleuchteten Raume, der auf Dämonie gestimmt war, in halbverhängten Logen kuschig-raffinierten Stils, unter möglichst geringem Verbrauch an Platz, eng aneinander, einige spitzbeschuhte Pärchen. Ein Tänzer mit Kokaingesicht bewegte sich vor einem zweifelhaft aussehenden Frauenzimmer zu dem Gebell eines Klaviers mit Bewegungen, die den mit den Errungenschaften der Neuzeit unvertrauten Adjunkten mit Staunen erfüllten. Sofort stand ein hoheitsvoller Gentleman im Frack vor ihrem Tische, der unbekannte Namen hervorzustoßen begann, vom Cocktail angefangen bis zur letzten Absinthmischung. Der arme Adjunkt, der sich die Verderbnis viel einfacher vorgestellt hatte, bekam ein leichtes Herzklopfen, aber seine Gefährtin, vertrauter mit dieser Welt, machte mit mondäner Sicherheit ihre Bestellung.

Gleich darauf erschien ein Imbiss auf dem Tische, eine wunderbare Konstruktion aus Fleisch, Gemüsen, Farben und Formen. Ein Weinpfropfen knallte dicht neben seinem Ohre. Wagner trat ein leichter Schweiß auf die Stirn. Er zeigte eine auffallende Appetitlosigkeit, währenddem die Kleine mit einer gewissen Gier aß und in immer bessere Laune geriet. Es war wie ein Nebel vor seinen Augen, das Lokal bekam etwas Schattenhaftes für ihn. Während er den Bewegungen des marionettenhaften Paares zusah, ging es ihm durch den Kopf: Adolf braucht einen neuen Anzug, die Gasrechnung ist zu bezahlen, dem Reumann schulde ich anderthalb Millionen und ich sitze hier. Zu Hause hielten sie dreimal wöchentlich fleischlose Tage.

Indessen war die Kleine immer fideler geworden, und zwischen Wagner und ihr hatte sich der Zwischenraum so verringert, dass ihm keine andre Wahl blieb, als den Arm um ihre Taille zu legen, wollte er nicht als ein Dämlack dasitzen. Aber er tat dies nur noch wie eine Pflicht. Der freudige Schwung, die Heiterkeit, die ganze wiederaufgelebte Abenteuerlust des Jünglings waren mit einem Schlage verschwunden, und es kam wie tiefe Trauer über ihn, dass die Lust der Jugend für immer dahin sein sollte. Lange wehrte er sich gegen diese Schatten, die ihm aus seinem Heime gefolgt zu sein schienen, versuchte durch ein paar Küsse und unternehmende Keckheiten ihrer zu spotten. Dann aber stand er plötzlich auf und rief mit fester Stimme: »Zahlen!«

Die Rechnung gab ihm den Rest. Die Trinkgelder fielen so schäbig aus, dass er sich den Rock allein anziehen musste.

Gott sei Dank, er war wieder auf der Straße. Lustig, an seinen Arm gehängt, schwatzte die Kleine:

»Das Schönste ist, dass ich gar nicht weiß, wie du … wie Sie eigentlich heißen. Ich heiße Mitzi.«

Das habe ich mir vorstellen können, dachte er ingrimmig. »Und ich heiße Theodor«, log er.

»G’rad so siehst du aus«, schrie Mitzi begeistert. Sie zog ihn am Arm hin und her und prustete vor Lachen. »Also wohin jetzt?«

Plötzlich empfand er Widerwillen und Beschämung. Und mit Bitternis beschloss er: Nein, nein, mag sie zum Teufel gehen, es lockt mich nichts mehr. Trotzdem zwang er sich, ein freundliches Gesicht zu machen, und sagte mit einer gewissen Höflichkeit:

»Es ist leider so spät geworden, jetzt muss ich nach Hause. Also, Fräulein Mitzi, vielen Dank für die Gesellschaft und kommen Sie gut nach Hause.«

Maßlos erstaunt reichte sie ihm die Hand.

»Alter Narr«, murmelte er im Weggehen durch die Zähne.

Zu Hause fand er die Seinen um den Tisch versammelt. Mit einem Freudengeschrei wurde er begrüßt. Niemand hatte ihn so früh zurückerwartet. Seine Frau war zum Ausgehen gekleidet, denn sie hatte noch einen Abendbesuch bei einer Bekannten vorgehabt. Dennoch freute sie sich aufrichtig; überhaupt sah es aus, als wäre er von einer weiten Reise in ein warmes Nest zurückgeflogen. Es gab seine Leibspeise, Eiernockerln, aber er rührte nichts an, saß tiefsinnig, in Gedanken versunken da, so dass die Frau ihn besorgt fragte:

»Bist du krank, Peter?«

Er schützte Müdigkeit vor. Sie zwang ihn, sich auf das Sofa zu legen. Ihre Fürsorge rührte ihn und beschämte ihn ein wenig. Die Kinder lachten und schwatzten, ihre hellen Stimmen erfüllten den Raum. Er lag wirklich müde da und dachte trübsinnig: Das alles hängt an dir, da kommst du nicht los. Das Licht der Lampe fiel auf das Gesicht seiner Frau. Und wieder sah er die tiefen Falten bei den Mundwinkeln, die schlechten Zähne, die welke Haut, aber diesmal mit einem andern Auge. Sie hat es nicht gut gehabt im Leben, dachte er, als er sich ihres frischen Gesichtes vor zwanzig Jahren erinnerte.

»Therese, komm«, sagte er, sich plötzlich erhebend. »Ich begleite dich zu Bittmanns. Ich bin schon ganz ausgeruht.«

Als sie die Stiege hinuntergingen, drückte sie seinen Arm an sich:

»Ich bin froh, dass ich noch ein wenig wegkomme. Nein, was für ein wunderbarer Abend. Es ist ja schon Frühling, Peter.«

Er warf einen hoffnungslosen Blick auf die Gestalt an seiner Seite, grunzte etwas Unverständliches und zündete sich eine Zigarre an.


Textnachweis
Aus: Arbeiter-Zeitung, 3. April 1925, S. 5–6. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Sophie Taeuber-Arp, Dada-Komposition, 1920

Fünf Gedichte

von Thekla Merwin (1887–1944)

Dämmerung

Am Horizont verblasst das Abendrot,
Grau wird der letzte rosenfarb’ne Strich,
Nacht, Schlaf und Tod
Vermischen ihren Atem wunderlich.

Der Wind seufzt leise, und dann schweigt die Flur,
Unwirklich ist das Sein, sind ich und du,
Und allen Dingen bleibt nur die Kontur
… Seele, du wanderst fernen Tagen zu.

Du wanderst und du wanderst ohne Rast,
Bis sich der Schoß, der alle Pflanzen hält,
Dir öffnet, dir, der Erde flüchtigem Gast –
Dann wirst du selbst ein Teil der stummen Welt.

Du bist die Dryas, die im Dämmer nickt,
Der Bach, der durch den stillen Abend fließt,
Der Stein, der eine letzte Stätte schmückt,
Die Blume, die aus morschem Leibe sprießt.

Und tiefste Ahnung peinigt dich und droht,
Mit dunkeln Augen naht das Ewige sich
… Nacht, Schlaf und Tod
Vermischen ihren Atem wunderlich.

Die Straße

Die laue Nacht bringt Wonne und Versagen,
Dort, von den Bergen wächst sie riesengroß,
Und was im Lärm vertönt an lauten Tagen,

Das zeigt sie schweigend, nackt und schleierlos.
In hohen Straßen stirbt der letzte Schimmer,
Trübes Laternenlicht erhellt sie bloß.

… Da birgt sich manch ein Glück im stillen Zimmer,
Da weint ein Säugling, dass es widerhallt,
Oder ein Auge schließt sich müd’ für immer.

Hier siehst du eines Weibes Wohlgestalt,
Halb schon erfahren, halb noch voller Schämen,
Noch jung, doch schon in einem Jahre alt.

Bald lockt ihr Aug’, bald ist es voller Grämen.
Im Häuserschatten wartet der Bandit,
Bereit, den grausen Lohn ihr abzunehmen.

Woran der Blick sonst leicht vorüberflieht,
Das wächst im Dunkel zum erbarmungsreichen
Und urgewaltigen Menschheitsklagelied

Und macht das Herz schwer und die Lippen bleichen.
Der schwarze Himmel, den die Nacht umspannt,
Er trägt in tief geheimnisvollen Zeichen

Auch unser Schicksal, nah, doch unbekannt.

Die Stadt

Aus müden Lungen atmet Dunst die große Stadt,
Mildäugig über dem gezackten Turme
Steht blasser Mond, der mich begleitet hat.
Und wie das stille Meer nach hartem Sturme
Schläft auch dies Meer von Menschen, stumm und matt
… Aus müden Lungen atmet Dunst die Stadt.

Doch morgens brüllt das aufgeweckte Tier
Und schreit nach Nahrung durch die engen Gassen,
Aufpeitscht die Woge Hunger, Lust und Gier,
Aufpeitscht die Woge Ehrgeiz, Lieben, Hassen,
Und alle Dämme überfluten schier
… Tagsüber brüllt das aufgeweckte Tier.

Doch in dem feierlichen Raum der Nacht,
Wie liegt sie mir geheimnisvoll zu Füßen,
Gleich der Natur in ihrer Schöpferpracht.
Und auch mein Blut spürt ihr verwandtes Grüßen,
Und jeder Stein, er singt ein Lied von Macht
Hoch in dem feierlichen Raum der Nacht.

Großstadtballade

Hinter mir der Tod über die Gasse sprang,
Kling! Klang!
Das war wie ein Sensenschnitt, harsch und rau,
Und am Boden lag sie, die elende Frau,
Die der Hunger zur Erde zwang.

Fünf Groschen klirrten vom Straßenrand
In den Sand,
Ein Bettler bückte sich heimlich und stahl
Der sterbenden Frau das Betriebskapital,
Und er grinste scheu und verschwand.

Selbst vornehme Wagen warteten schon
(Dabei ein »Baron«!),
Denn die Menge sammelte sich im Nu
Und sah dem Schauspiel des Sterbens zu,
Dann ging man davon.

Die Sonne am Himmel stand purpurrot
Über Grauen und Kot,
Still grüßt’ sie die Erde und ihre Qual,
Das alte Weib verröchelte fahl,
Dann seufzte es tief und war tot.

Vier Arme huben die traurige Fracht,
Gute Nacht!
Dann trabten vier Hufe gleichmütig dahin …
O Menschen, was habt ihr für Widersinn
Aus herrlichem Leben gemacht?

Und alle Jahre geht’s dem Winter zu

Und alle Jahre geht’s dem Winter zu,
Und alle Jahre steigt ein Frühling jung
Gewaltig aus der Erde starrer Ruh’.

Rasend bewegt sich ewiger Erdenschwung,
Hier tönt der Schrei der nächtlichen Geburt,
Dort werden Menschen für den Humus Dung.

Das alte Räderwerk, es rollt und surrt,
Und in den Speichen dreh’n sich unsere Lose,
Narr, der sich freut, Narr, der verbittert murrt.

Der kriegt die Lumpen, der die Bügelhose,
Und beide lädt zuletzt ein Hügel ein,
Ein Pfarrer rührt euch – je nachdem die Chose.

Die Witwe kauft sich einen Totenschein,
Und die Verlassenschaft bezahlt die Parte,
Ist sie aktiv, wird es ein Marmorstein.

Doch stirbst du ohne Geld, mein Freund, dann starte
Zur Ewigkeit im wesenlosen Schein.


Textnachweis
Dämmerung, aus: Neues Wiener Tagblatt, 15. Mai 1921, S. 22.
Die Straße, aus: Arbeiter-Zeitung, 6. Juni 1926, S. 17.
Die Stadt, aus: Arbeiter-Zeitung, 18. Juli 1926, S. 20.
Großstadtballade, aus: Arbeiter-Zeitung, 21. April 1929, S. 17.
Und alle Jahre geht’s dem Winter zu, aus: Arbeiter-Zeitung, 29. Oktober 1932, S. 7.
(Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Alexandra Exter, Farbentwurf, 1922

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑