Der Schatten

Eine Fabelei von Rosa Mayreder (1858–1938)

Es war sehr kalt. Das Licht des Vollmondes glänzte blendend auf dem frischgefallenen Schnee. Ich watete darin bis über die Knöchel; ein feiner glitzernder Staub wirbelte beständig unter meinen Kleidern auf. Vor mir aber watete mein Schatten. Eilig lief er dahin und begleitete mich getreulich durch die ausgestorbenen schweigenden Gassen. Der Schnee verschlang alle Geräusche, von denen die Mitternacht der Städte belebt ist; ich hörte meine eigenen Schritte nicht.

Da kam mir ein Gedanke. Ich blieb stehen. Das ist zwar kein Grund stehenzubleiben; zu meiner Rechtfertigung muss ich aber bemerken, dass es ein ganz verblüffender Gedanke war, der mir da eben gekommen war, ein phänomenaler, schicksalsschwerer Gedanke. Die Menschheit allerdings, fürcht’ ich, wird wenig davon profitieren; nicht, weil sie überhaupt von allen phänomenalen Gedanken bisher wenig profitiert hat, sondern weil mein phänomenaler Gedanke lediglich eine Privatangelegenheit meiner Person betraf. Ich befand mich nämlich damals in jenem sonderbaren und abnormen Zustand, den man gewöhnlich mit dem schwachen Worte »Verliebtheit« bezeichnet.

Als ich so stille stand, hörte ich einen gähnenden Seufzer, wie von jemandem, der nach einem tiefen Schlafe langsam erwacht. Ich sah mich um – niemand da. Alles leer, alles einsam. Hatte ich mein eigenes Seufzen für ein fremdes gehalten? Ich wollte weitergehen; aber da trat ich auf eine schwammige, gallertartige, elastische Masse, und eine schwindsüchtig heisere Stimme sagte:

»Au! So gib doch acht, du trittst mir ja auf den Bauch!«

Und nun bemerkte ich, dass mein Schatten, der so klar auf der schimmernden Fläche lag, sich aufgebläht hatte und sich als dunstiger Körper vom Boden abhob. Er stützte sich halbliegend auf seinen linken Ellbogen; seine rechte Hand, die einem bläulichen Rauchwölkchen gleichsah, streckte er gegen mich aus, wie jemand, der will, dass man ihm beim Aufstehen behilflich sei.

Schleunig trat ich einen Schritt zurück, um diesen unverschämten Rebellen vermittelst der optischen Gesetze in die gebührenden Schranken zu weisen. Aber es war zu spät. Er hatte sich schon emanzipiert und allen Respekt vor den altbewährten Naturgesetzen verloren. Schwerfällig unbeweglich blieb er auf der Stelle liegen, losgetrennt von der Gestalt, mit der er fünfundzwanzig Jahre unauflöslich verbunden gewesen war.

Ich dachte, dass ihm vielleicht durch gütliches Zureden noch beizukommen wäre.

»Was fällt dir ein?«, sagte ich vorwurfsvoll. »Das geht doch nicht, dass du dich auf einmal benehmen willst, als wärest du dein eigener Herr. Sei gescheit; lege dich wieder hin, wie sich’s gehört, und lass mich weiter gehen. Habe ich nicht Kummer genug? Willst auch du mir abtrünnig werden und mich allein lassen?«

Er kehrte sich nicht an meine Worte. Mit blindem Eifer, pustend und stöhnend, suchte er sich auf die Beine zu stellen. Dabei schlotterte er am ganzen Leibe vor Anstrengung; krampfhaft klammerte er sich an die Mauer, um sich im Gleichgewichte zu erhalten.

Recht kläglich sah er aus, in die Länge gezogen, schwarzblau vom Kopf bis zu den Füßen und ganz unausgearbeitet in den Details, nur gerade die notdürftige Kontur eines weiblichen Wesens. Er hatte sich einige Körperlichkeit gegeben, indem er sich zu einem wolkigen Dunst aufblies; aber durch seinen transparenten Leib schien die fleckige Mauer hindurch; und was er an Rundung gewonnen hatte, war ihm an Intensität verloren gegangen.

Ich versuchte es noch einmal mit der Güte. »Du warst ja bis jetzt ein braver, folgsamer Schatten! Oder hättest du auf einmal den Ehrgeiz, aus einem Schatten ein Geist zu werden? Da wärst du was Rechtes! Kein Mensch hat mehr Respekt vor Geistern; selbst der ›höchste Geist‹ ist in Misskredit gekommen. Und überlege doch: Hast du als ein solider, wohlversorgter Schatten, für den ich in allen Lebenslagen mit meiner Person einstehe, nicht eine angenehmere Existenz, als wenn du zum Geist avanciertest und etwa jedem schäbigen Medium Rede stehen müsstest –? So lange du mein Schatten bist, hat dir niemand außer mir was zu befehlen; aber als vazierender Geist hättest du keine andere Aussicht für deine fernere Laufbahn, als dich bei den Spiritisten mit Alphabetklopfen abzurackern; und am Ende gar als unorthographischer Geist zum Gespötte der Ungläubigen zu werden.«

Dennoch machte er keine Miene, seinen erbgesessenen Platz wieder einzunehmen.

Nun riss mir die Geduld. Drüben auf der andern Seite der Straße lag der Häuserschatten als ein breites, dunkles Band; ich brauchte nur hinüberzugehen; und dann musste es sich zeigen, wie weit mein rebellischer Schatten mit seiner Selbständigkeit reichte.

Kaum hatte ich den ersten Schritt hinüber gemacht, so hing er auch schon hilflos an meinen Rockfalten.

»Halt, halt!«, rief er mit seiner schwachen, unangenehmen Stimme, die klang, als wenn eine Kleiderbürste auf einem Papier gerieben würde. »Bringe mich doch nicht um, kaum dass ich das Licht der Welt erblickt habe.«

Da musste ich lachen.

»O du Renommist! Das Licht der Welt? Hast du schon vergessen, dass zwischen dir und dem Lichte der Welt ich stehe? Willst du etwa dieses Ich, das dich gezeugt hat, in Pension setzen wie einen ausgedienten Feldwebel, um ferner ohne seine Vermittelung in Beziehung zu dem Lichte der Welt zu treten?«

Er räusperte sich langwierig; das Reden schien ihm beschwerlich zu sein. Dann sagte er mit etwas besserer Stimme in einem Tone zwischen kriechender Schamdemut und heimlichem Geisterhochmut:

»Da ich also dein Werk bin, warum redest du Dinge, die nicht hergehören? Warum verhöhnst du mich deswegen, was du selbst mit aller Gewalt herbeigeführt hast? Bin ich nicht der Triumph deiner Technik? Hast du nicht dein Ich unbarmherzig geschunden, um mich mit seiner lebendigen Haut auszustatten? Hast du mir nicht deinen Atem eingehaucht, bis ich aufgeblasen worden bin? Hast du mich nicht gefüttert mit deinem Fleisch und Blut? Hast du mir nicht eben früher dein eigenes Herz zum Fraße hingeworfen? Ich hab’ es, ich hab’ es, dein Herz, ich hab’ es und geb’ es nicht mehr her!«

Er machte einen sonderbaren Luftsprung; dabei spaltete er sein dünnes Schattenkleid und verwandelte sich auf diese Weise in einen männlichen Schatten. Mit jedem Augenblick schien er kräftiger, selbständiger zu werden; in seinem Innern glaubte ich auf einmal einen undurchsichtigen Kern zu bemerken. Sollte das wirklich mein Herz sein? Mich überlief’s; ich begann mich zu fürchten. Das ist etwas, was ich ungern eingestehe; nicht einmal mir selbst: Ich tat, was man gewöhnlich tut, um eine beschämende Tatsache zu bemänteln, ich begann zu schimpfen.

»Lügner, frecher, unanständiger Lügner! Ich hätte dir mein Herz, mein gutes, volles, lebendiges Herz zugeworfen, ich dir? Aber wenn du schon mein Herz zu haben vorgibst, Elender, so zeig es her, beweise deine Behauptung. Ja, beweise, beweise, wenn du kannst.«

Da stellte er sich mit gespreizten Beinen vor mich hin. Und mitten in seiner blauschwarzen Brust, wie ein Stern durch eine Rauchwolke, schimmerte es rötlich gelb. Eilig suchte ich – denn ich bin sehr kurzsichtig – meine Lorgnette aus der Tasche. Kein Zweifel! Es war mein Herz, das er da in der Brust trug! Es sah aus wie ein Lebkuchenherz, schön verziert mit blauen und roten Adern, und auch der Zettel mit dem Sinnspruch fehlte nicht. Deutlich stand darauf zu lesen:

Glaube, Hoffnung, Liebe sind drei;
Eins wenn fehlet, breche ich entzwei.

»Gib es mir augenblicklich zurück!«, sagte ich, meine Hand danach ausstreckend. »Mit einem so sentimentalen Herzen darf man keine Experimente machen, das sehe ich jetzt. Ich will es künftig in Ehren halten. Also gib her, und mit Vorsicht, hörst du?«

Er hielt sich beide Hände vor die Brust und wich zurück. Meine Angst stieg aufs Höchste.

»Räuber, Dieb, Schurke, gib mir mein Herz zurück«, schrie ich und stürzte mich auf ihn, um es ihm mit Gewalt zu entreißen.

Aber ich stürzte ins Leere. Da lag ich, schmählich zu Boden gestreckt durch mein eigenes Gewicht. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass mein Schatten die Flucht ergriffen hatte. Er war schon weit weg; schnell und geräuschlos glitt er an den weißen Häuserwänden entlang. Dann bog er um die Ecke.

Was blieb mir übrig, als ihm nachzulaufen? Doch als ich an die Ecke kam, war von meinem Schatten straßauf straßab keine Spur mehr zu entdecken.

Und o Schrecken! In meiner Brust rührte sich nichts. Dort, wo sonst jenes närrische, einfältige, wunderliche Ding hüpfte, das Herz, war alles still und tot; ich fühlte nur eine dumpfe, leere, eine unbehagliche Kühle an der Stelle, die es einzunehmen pflegte.

Aus der Ferne kam der Rayonposten schläfrig durch den Schnee gestapft. In meiner Ratlosigkeit ging ich ihm nach und fragte ihn, ob er nicht jemanden vorüber laufen gesehen habe.

Nein, er hatte niemanden gesehen. Wer denn vorübergelaufen sein sollte?

Jemand, der mir mein Herz gestohlen hatte.

Der Rayonposten ermunterte sich ein wenig.

Gestohlen? Jetzt eben? Auf offener Straße?

Ja, eben jetzt auf offener Straße.

Also ein Raubattentat? Das Herz samt der Uhr? Vielleicht auch die Geldbörse?

Nein, bloß das Herz.

Ein silbernes oder goldenes?

Nein, nein, mein wirkliches, lebendiges Herz, kein bloßes Uhr- oder Armbandanhängsel.

Der Rayonposten sah mich misstrauisch an.

»Aber Sie sind ja ganz wohlauf, meine Liebe«, sagte er. »Wollen Sie sich vielleicht einen Scherz mit mir erlauben? Und überhaupt, was machen Sie denn so ganz allein nach Mitternacht auf der Gasse? Das schickt sich nicht für ein anständiges Fräulein –«

Er warf einen außerordentlich scharfen Blick auf mich und schien sich auf die in solchen Fällen der Tugend der Rayonposten angemessene Grobheit vorzubereiten.

Ich beeilte mich ihm mitzuteilen, dass ich kein Fräulein, sondern eine verheiratete Frau sei.

Der Respekt des Rayonpostens befestigte sich wieder ein wenig. Er sagte mit einer Anwandlung von Galanterie:

»Hm, an Stelle Ihres Herrn Gemahls würde ich Sie um diese Stunde nicht so allein herumgehen lassen!«

O ahnungsvoller Rayonposten! Er griff mit sicherer Hand hinein in das Gewebe schicksalsvoller Gedanken und Begebenheiten, in das ich mich während dieser Nacht verstrickt hatte. So widerstand ich nicht der Versuchung, ihm meine Leiden anzuvertrauen. Es liegt ja eine solche Erleichterung darin, sich seine Beschwerden von der Seele herunterzureden, selbst wenn es nicht die richtige Adresse ist, an die sie gelangen! Nebenbei bemerkt, war der Rayonposten wirklich ein ungewöhnlich hübscher Mann. Das weibliche Geschlecht soll zwar, nach den offiziellen Berichten, wenig Gewicht auf die Vorzüge der männlichen Schönheit halten; aber es ist anzunehmen, dass diese offiziellen Berichte von sehr hässlichen Männern herstammen.

»Sie müssen wissen, ich bin noch nicht gar lange verheiratet«, sagte ich vertraulich; »heute ist es genau drei Monate und zwei Wochen her. Sind Sie vielleicht auch verheiratet?«

»Verheiratet gerade nicht«, versetzte der Rayonposten, ebenfalls vertraulich.

»Ach Gott, dann können Sie sich unmöglich vorstellen, was es heißt, drei Monate und zwei Wochen verheiratet zu sein!«

Der Rayonposten schmunzelte. »Warum nicht? Das muss eine ganz angenehme Zeit sein – das sind ja die sogenannten Flitterwochen.«

»Nein, diese Zeit bedeutet schon das Ende der sogenannten Flitterwochen. Ach das ist es ja eben! Jetzt beginnt die Zeit der Enttäuschung!«

»Na, es wird nicht so gefährlich sein!«

»Ich weiß nicht, ob Sie Schiller gelesen haben – aber selbst dieser Schiller, der doch bekanntlich ein Idealist war, sagt: Mit des Lebens schönster Feier endet auch der Lebensmai. Er verhält sich also schon gegenüber den Flitterwochen skeptisch. Hingegen bezeichnet Jean Paul dreieinhalb Monate als den Termin, an dem es für Eheleute angezeigt sei, höflich miteinander zu werden. Und gar Schopenhauer – kurzum, es ist grausam! Ich habe keine ruhige Stunde mehr. Bei jedem gleichgültigen Worte denk’ ich schon: So, jetzt ist es aus! Jetzt hat er verraten, dass es schon aus ist! Es gibt Töne in seiner Stimme, Töne – ach Töne, bei denen ich glaube, das Herz steht mir still, Töne so voll Gleichgültigkeit, voll Kälte, voll Fremdheit –! Und dabei sich immer zu fragen, ob diese Töne nicht bloße Ausgeburten des Argwohns sind! Nicht bloße Selbsttäuschungen! Haben Sie schon einmal über das Kapitel der Selbsttäuschungen nachgedacht? Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, fangen Sie nie damit an! Das ist ein Labyrinth, ein Abgrund, eine unterirdische Höhlenwelt, aus welcher es keinen Ausweg gibt. Es ist eine verzauberte Wüstenei, in der man von bösen Geistern ewig im Kreis herumgeführt wird. Es ist ein Fegefeuer, in dem man die Sünden der Skepsis am eigenen Leibe büßen muss. Weh dem, der die Kraft des Glaubens nicht hat. Es genügt nicht, dass man liebt; man muss auch an die Liebe glauben, glauben an seine eigene Liebe! Der Zweifel bricht uns das Rückgrat – und dann sind wir allen gemeinen Mächten ausgeliefert, ein Spielzeug unserer eigenen Geschöpfe, Sklave unserer eigenen Sklaven –!«

»Ich weiß aber noch immer nicht, warum Sie sich so spät allein auf der Straße herumtreiben«, sagte der Rayonposten.

Er gehörte offenbar zu jenem Publikum, das mehr auf Handlung als auf psychologische Beobachtungen Gewicht legt.

»Also dass ich es kurz sage: Heute ist er zum ersten Mal, seit wir verheiratet sind, wieder in den Klub gegangen. Natürlich allein, ohne mich! Konnte es ein deutlicheres Symptom geben? Ich war außer mir – aber ich ließ ihm nichts merken. Denn die Liebe ist leider eine furchtbar komplizierte Sache. Gewiss, wenn ich gesagt hätte: ›Bleibe bei mir zu Hause, es kränkt mich, dass du mich allein lässt‹, er wäre zu Hause geblieben. Daran zweifle ich beinahe nicht. Aber Liebe will erraten sein. Wir hätten es so leicht, wir wissen, dass sich alles fände, wenn wir nur ein Wort sagten – aber das ist es eben! Wir wollen dieses eine Wort nicht sagen, denn wir wollen erraten sein.«

Der Rayonposten räusperte sich.

»Nun, er erriet nichts. Wohlgemut wusch er sich die Hände und band eine frische Krawatte um, bevor er fortging; dann küsste er mich und fragte zerstreut – denn er war mit seinen Gedanken schon aus dem Hause –:

›Was wirst du denn machen, bis ich nach Hause komme, mein Herz? Übrigens komme ich sicher vor Mitternacht.‹

›O ich werde mir die Zeit schon vertreiben‹, sagte ich und lachte, während er fortging. Kaum aber war er fort, so rannte ich davon.

Ich hätte um keinen Preis länger zu Hause bleiben können, in diesen Wänden, die mich einst so maßlos glücklich gesehen hatten. Ich weiß nicht, wohin ich lief. Ich glaube, ich hatte die Absicht, eine lange Reise anzutreten oder auf immer spurlos zu verschwinden.

Später gab ich diese Absicht wieder auf. Ja endlich, nachdem eine ganze Legion verzweifelter Gedanken, wer weiß wie lange, in meinem Gehirne hin und her galoppiert war, kam mir auf einmal ein neuer Gedanke, ein frappierender Gedanke, ein phänomenaler Gedanke, der meinen Fall in ein vollständig verändertes Licht setzte.

Wie, wenn vielleicht meine eigenen Empfindungen es wären, die sich schon zu verändern beginnen? Wie, wenn die Ernüchterung am Ende bei mir selber anfinge oder vielmehr schon angefangen hätte? Gerechter Gott, wenn dieser erbärmliche Argwohn, dieses widerwärtige Auflauern und Behorchen, diese feige Zweifelsucht nur Symptome dafür wären, dass ich – ich – ich diejenige bin –!«

An diesem Punkt meiner Bekenntnisse fiel mir mein Schatten wieder ein. Ich hatte gänzlich vergessen, auf ihn zu achten, während ich dem Rayonposten mit jener nüchternen Tatsächlichkeit, die im Verkehr mit Rayonposten angezeigt ist, mein Schicksal erzählte.

Sollte ich fortsetzen?

Er war zwar ein schöner Mann, aber bei längerer Bekanntschaft schien es mir, als ob der Umgang mit Geistern nicht seine starke Seite wäre. Hatte er doch nicht einmal noch bemerkt, welche Bewandtnis es mit meinem Schatten hatte!

Ich warf einen geringschätzigen Blick nach der Richtung hin, wo der Schatten des Rayonpostens mit der Plattheit der gewöhnlichen Schatten auf dem Boden lag – und siehe da, ganz als wäre nichts vorgefallen, lag daneben mein eigener Schatten in friedlichem tête-à-tête mit der Pickelhaube, die sich kokett auf der blanken Schneefläche abzeichnete. Er musste unvermerkt zurückgeschlichen sein – und wahrhaftig, da drinnen an der alten gewohnten Stelle klopfte es auch wieder in der alten gewohnten Weise, dieses närrische, einfältige, wunderliche Ding, mein Herz, mein Herz!

Der Rayonposten sah auf seine Taschenuhr.

»Es ist dreiviertel zwei vorüber«, sagte er und gähnte. »Um zwei Uhr werde ich abgelöst; kommen Sie mit mir aufs Kommissariat, damit Sie den Vorfall bezüglich des Herzens zu Protokoll geben können –«

Dreiviertel auf zwei! Also wartete er seit zwei Stunden zu Hause, ohne zu wissen, was mit mir geschehen war! Mein Herz, wie alle verlorenen und zurückgekehrten Söhne, machte seine Hausherrenrechte geltend; ich ließ den Rayonposten im Stich und schlug spornstreichs den Weg nach Hause ein, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzusehen, ob mein Schatten hinter mir folgte oder nicht. Ich lauschte auf die Schläge meines Herzens, ganz selig, dass es so unverdrossen darauf los pochte.

»Poche, poche, liebes Herz«, sagte ich immer wieder voll Rührung. Es fiel mir gar nichts anderes ein; aber wie froh war ich, dass mir nichts anderes einfiel!

Erst beim Haustor kam mein Schatten mir wieder vor die Augen. Er gab kein Lebenszeichen von sich; flach und geknickt lehnte er halb auf dem Boden und halb auf dem hölzernen Torflügel.

Und während ich ungeduldig auf den verschlafenen Hausmeister wartete, enthielt ich mich nicht, meinem Schatten zu sagen: »Du sollst mir keine Possen mehr spielen! Denn jetzt weiß ich, wie man Schatten behandelt: Man muss sie ignorieren, wenn man über sie Herr bleiben will.«


Kommentar
Die Autorin, Malerin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder (1858–1938) ist, zumindest in Österreich, keine Unbekannte: In ihrer Heimatstadt Wien sind eine Straße, ein Park und ein feministisches College der Volkshochschule nach ihr benannt; vor Einführung des Euro zeigte die 500-Schilling-Banknote ihr Porträt. Im Gedächtnis geblieben ist sie aber vor allem als Aktivistin in der Frauenrechts- und in der Friedensbewegung sowie als Verfasserin kritischer Essaysammlungen (Zur Kritik der Weiblichkeit, 1905; Geschlecht und Kultur, 1923). Demgegenüber sind ihre dichterischen und fiktionalen Werke heute kaum noch bekannt.

Erstmals im Jahr 1900 erschienen, schildert Der Schatten auf humorvolle Weise eine kurze, surreal anmutende Episode, in der die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit aufgehoben oder zumindest in Frage gestellt scheinen. Mayreder prägte dafür die neue Gattungsbezeichnung ›Fabelei‹. Der Schatten und andere ihrer Texte von ähnlicher Art erschienen 1921 als Fabeleien über göttliche und menschliche Dinge gesammelt in Buchform. In einer ausführlichen Besprechung umriss Christine Touaillon die Charakteristika dieser Sammlung wie folgt: »Die Dichterin bezeichnet ihre ›Fabeleien‹ als Flucht vor der Wirklichkeit. Aber in Wahrheit sind sie kein Ausdruck eines Bedürfnisses, sondern der Ausdruck einer Wesensnotwendigkeit; Rosa Mayreder flüchtet nicht aus dem Leben in eine ferne Phantasiewelt, sondern die Phantasiewelt ist die Form, in der ihr Geist die Wirklichkeit erlebt. (…) Rosa Mayreder setzt sich in [den ›Fabeleien‹] mit dem Zweck des Lebens auseinander, mit dem Geist und der Sinnlichkeit, dem Schönen und dem Alltäglichen, mit den leeren Versprechungen der Philosophie und den Gefahren des eigenen Herzens. Aber die Schlussworte aller dieser kleinen Erzählungen, die keine schweren äußeren Akzente haben und so gewichtslos scheinen, klingen in tiefe Wehmut aus.« (Neue Freie Presse, 5. März 1923, S. 7.)

Textnachweis
Aus: Das Magazin für Litteratur [sic], 69. Jg., Nr. 38, 1900, Sp. 946–952. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Boznańska, Der Dom von Pisa, 1905

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