Novellette von Martha Asmus (1844–1910)

Der Herbstwind fuhr durch die Straße und trieb Regen und welke Blätter an die Fensterscheiben.
Nach zwei Jahren der Examen-Studien wieder zu Hause bei Großtantchen!
Johanna drückte sich behaglich in den alten Großvaterstuhl und ließ sich ohne Widerrede von dem Großtantchen bedienen. Sie hatte es ja fast vergessen, wie das Rostbrötchen hergerichtet und wie der Tee aufgegossen werden musste. Ja, richtig! So hatte es Großtantchen immer gehalten: nicht viel von den China-Blättern, aber ein Stückchen Vanillestange in den Teetopf! Großtantchens gutes, runzliches Gesicht strahlte über dem feinen, uralten Teeservice, und ihre Kinnladen machten einige unmotivierte Kaubewegungen, als sie die heißen Brötchen mit Butter bestrich.
»Ja, siehst du«, sagte sie, »so hat es dir doch nie geschmeckt in der ganzen Zeit.«
Nein, wirklich! Und dazu das ganze alte Heim! Diese Wände mit den rotbraunen Sammettapeten, das tafelförmige Klavier, der rote Ripssofa mit dem Großtantchen darauf, der hochlehnige Großvaterstuhl, in dem sie selbst saß, und da in der Ecke ihr einstiges Kinderschränkchen, hinter dessen Glastüren jetzt ihre Seminarbücher standen. Johanna war es wie im Traum, und die Berliner Anstalt, die sie heute erst verlassen hatte, lag wie in weiter Ferne hinter ihr.
Nur ein Wesen fehlte: das alte Faktotum Barbara mit ihrer weißen Küchenhaube um das kleine spitze Gesicht; ihr Gehen und Kommen fehlte, ihr Einmischen in die Gespräche, ihr leises Stöhnen, mit dem sie ihre Atemzüge zu begleiten pflegte. Außerdem war alles wie sonst.
Wie sonst tickte die alte Wanduhr mit den Hängegewichten, und wieder sprach Großtantchen, leise und etwas heiser, wie sonst.
»Ich sehe doch nicht ein, warum du wieder fort willst. Nun Barbara nicht mehr hienieden ist – du weißt, heut ist’s gerade ein Jahr. –«
»So? Gerade heut?«, sagte Johanna traurig. »Die gute Barbara!«
Aber Großtantchen fuhr etwas hastig fort: »Und du hast es doch nicht nötig!«
»Nein!«, sagte Johanna träumerisch. Dann richtete sie sich aus ihrer zurückgesunkenen Stellung empor und atmete tief auf. »Aber es hat mich nötig! Ich habe Pflichten gegen die Welt. Die neue Zeit will die Kräfte ihrer Kinder nützen.«
»Na ja, du weißt ja, dass ich dich nicht hindern will. Wenn es zu deinem Glück ist. – Du kannst ja wohl hier nicht leben, wo’s nichts für dich zu tun gibt. Zu den jungen Mädchen in den Leseverein passest du nicht mehr. –«
Johanna sagte: »O, deshalb –!« Dann lachte sie aber doch kurz auf –
»Und von unserm Nähverein und den Kaffees wirst du auch nichts wissen wollen.«
Johanna lachte wieder, und doch tat ihr Großtantchen leid. Ihre alten trüben Augen sahen über die große Brille hinweg so gespannt nach einem Widerspruch aus. Enttäuscht richteten sie sich wieder auf das Strickzeug, das Großtantchen nach dem Einschenken der Tassen vorgenommen hatte.
Nein, Johanna hatte sich bereits gebunden, im neuen Semester eine Stelle als Lehrerin in einem bekannten Berliner Institut anzutreten. Sie schilderte Großtantchen das Leben, das sie dort erwartete, ihre zukünftige Tätigkeit, ihren anregenden Umgangskreis. Es sollte ein frisches, freudiges Schaffen, Weiterstreben und Wachsen werden.
Großtantchen hörte halb bewundernd, halb eingeschüchtert zu. Ganz zufriedengestellt aber war sie, als Johanna schloss: »Wenn ich mich völlig eingelebt habe, dann kommst du zum Besuch, und wenn es dir gefällt, dann trennen wir uns nie mehr.«
Sie – in Berlin! Na, daraus würde wohl nichts werden, dachte Großtantchen. Das Beste davon war, dass ihr altes kleines Mädchen doch nicht ohne sie sein mochte.
Sie nahm die Brille ab und wischte daran herum. Dann brauchte sie das Taschentuch in ihrer alten unhörbaren Weise, setzte die Brille wieder auf und strickte eifrig fort.
Der Herbstwind fuhr durch die Straße und trieb Regen und welke Blätter an die Fensterscheiben.
Unter dem Plaudern war es spät geworden. Großtantchen und Johanna saßen noch auf ihren Plätzen. Es gab so viel zu reden über Vergangenheit und Zukunft.
Johanna hatte hin und wieder nichts gegen eine kleine Pause, in der sie wie träumend umher sah. Mochte Großtantchen dann immerhin einmal das Strickzeug sinken lassen und etwas tief mit dem Kopfe nicken. Unbeschadet setzte das Geplauder lebhaft und traulich wieder ein.
Da fuhr plötzlich Großtantchens Kopf aus seiner hängenden Lage mit einem Ruck in die Höhe. Scheu sah die alte Frau hinter sich.
»Was war das?«, flüsterte sie.
»Ich weiß nicht!«, sagte Johanna gleichgültig, »ein sonderbares Geräusch, nicht wahr?«
»Wo?«, fragte Großtantchen leise.
»Da, nebenan, in meiner Schlafstube. Es klang fast wie menschliches Seufzen. Wahrscheinlich der Wind. – Was ist dir, Großtantchen?«, rief sie plötzlich lachend, »du fürchtest wohl Gespenster?«
»Bst! Um Gotteswillen!« Großtantchen nahm die Brille ab, faltete ihr Strickzeug zusammen und legte beides in ein Körbchen. Behutsam, um jedes Geräusch zu vermeiden, und mit einem bekümmerten, ergebenen Ausdruck.
»Großtantchen, ist es möglich?«
Die alte Frau stand auf. Mit einem verstörten Blick nach der Tür winkte sie Johanna zu schweigen.
Die Stille wurde durch zwölf laute Schläge der Wanduhr unterbrochen.
Gleich darauf stöhnte es tief auf in der Nebenstube. Zitternd und kreidebleich stand Großtantchen da.
Johanna wurde ungeduldig. »Frage doch deine Vernunft, Großtantchen! Wovor fürchtest du dich denn? Vor irgendeinem Toten? Das ist doch –«
Großtantchen zog Johanna dicht zu sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Es war um diese Stunde. Gerade jetzt vorm Jahr.«
»Und deshalb?! Meinst du wirklich, dass ihr Geist –«, unwillkürlich flüsterte Johanna auch.
»Sie findet keine Ruhe ohne mich!«
Nun lachte Johanna laut auf. »Ich glaube, Großtantchen, du schmeichelst dir zu viel. Warum spukt sie denn nicht in deiner Schlafstube, sondern in meiner?«
»Ach, du weißt doch, das Bild, das du von ihr gezeichnet hast, mit der spitzen Tollenhaube, das hing doch immer über meiner Kommode. Das hab’ ich da weggenommen und in deine Schlafstube gehängt.«
Die alte Frau stieß ein leises Wimmern aus. Deutlich kam ein Echo aus Johannas Schlafgemach.
»Deshalb?«, sagte Johanna ärgerlich, »und ich glaube, weil ich dem Wind das Fenster aufgemacht habe. Es gibt keine Geister!«
Großtantchen faltete die Hände. »Sprich nicht so gottlos, Johanna! Davon wissen die Berliner auch nicht mehr als wir.«
Johanna, die ein Licht angezündet hatte, ging der Tür zu. Da vergaß Großtantchen alle Scheu. »Um Gotteswillen, schlaf nicht da drin!«, rief sie entsetzt.
Johanna sagte nur: »Ich hätte dich für aufgeklärter gehalten.« Dann ging sie hinein.
Als Johanna die Tür hinter sich geschlossen hatte, begann Großtantchen sich zu beruhigen. Sie hörte menschliche Schritte in dem Gespensterraum hin- und hergehen, Schubladen öffnen und schließen, zuletzt ein Liedchen summen. Da nahm sie ihr Körbchen, und mit einem halblaut gesprochenen Gebet ging sie in ihr Schlafzimmer.
Johanna lag noch lange wach. Sie konnte sich nicht so bald beruhigen. Immer sah sie Großtantchens verstörtes Gesicht vor sich und hörte ihre wimmernden Laute.
Wie fremd war sie doch in zwei Jahren in ihrer alten Welt geworden! Ihre eigene Großtante! Noch Zeitgenossen, nur zwei Generationen entfernt, und schon war es ihnen nicht mehr möglich, sich zu verstehen. Großtantchen glaubte an Geisterspuk! An wandelnde, seufzende Geister! Ein unmöglicher Begriff! Das war ja das reine Mittelalter! Nein, hierher gehörte sie nicht! Sie kam sich wie verirrt vor und sehnte sich in ihre eigene Welt der neuen, goldenen Morgenröte.
*
Es war ein Jahr später. Johanna hatte keine Zeit gefunden, Großtantchen wiederzusehen. In Berlin schien es, als ob die Erde zu schnell um die Sonne kreiste. Das Jahr war zu Ende und die Ausführung aller Wünsche und Pläne noch im Rückstande. Im Sommer waren Ausflüge mit neuen Bekannten gemacht worden. Nun war es wieder Herbst. Beim Rückblick auf den vorigen war die Welt doch sonderbar verändert. Da waren neue Verhältnisse, neue Freunde, neue Anschauungen. Johanna schien sich selbst verwandelt, andere Sinne, andere Fähigkeiten gewonnen zu haben.
Ein blasser, herbstlicher Morgensonnenstrahl fiel auf die Chaiselongue, auf der Johanna aus ihrer Nachtruhe erwachte. Sie dehnte sich lässig, verschränkte die Arme im Nacken und starrte sinnend in die Helle der Fenster, die auf einen weiten, lichten Hofgarten führten. Die Taschenuhr auf dem Stuhl vor Johannas Lager hatte ihr die volle achte Stunde gezeigt. Welche Wonne, noch im Bett zu sein, statt zu unterrichten!
Da kam die Aufwärterin herein, schloss das Fenster, das die Nacht über offen gewesen war, und machte Feuer im Ofen. Als sie sah, dass Johannas Augen blinzelten, sagte sie: »Ich glaube, die alte Dame wacht!«
»Was, Großtantchen?« Johanna sprang auf, warf einen Schlafrock über und tappte leise an die Tür ihrer Schlafstube. Da drin war Großtantchen einquartiert und hatte ihre erste Nacht in Berlin verbracht. Wirklich! Das Schlüsselloch verdunkelte und erhellte sich bei dem Hin- und Hergehen eines Etwas dahinter. Johanna öffnete die Tür.
Fast gar nicht geschlafen hatte Großtantchen. Die Pferdebahnen und die Droschken fuhren ja immerzu, und Nacht wurde es überhaupt wohl nicht in Berlin. Aber das tat nichts. Ein Mittagsschläfchen sollte es wieder gut machen. Großtantchen fühlte sich jung wie ein Backfisch. Sie freute sich auf die Bildergalerien, das Panoptikum, die Theater und die Schaufenster. Sie wollte sich mehrere Garderobestücke kaufen. Im Nu war sie fertig, und während Johanna den Toilettentisch benutzte, besah und bewunderte Großtantchen die Wohnstube, aus der die Aufwärterin die Schlafdecken fortgenommen hatte, und die nun elegant und wohnlich aussah. In der Nähe des Ofens war ein Frühstückstisch arrangiert, an dem Johanna einige Minuten später vergnügt ihren Gast bediente.
Sie machten eben ihren Tagesplan, für den vor allem die großen Warenhäuser mit den bekannten Namen in Aussicht genommen waren, als Johanna ein Brief eingehändigt wurde. Nachdem sie ihn gelesen hatte, rief sie fröhlich: »Und damit sind die Außengenüsse für heute vorbei! Am Abend geht’s hier innen los. Meine besten Freunde haben sich angesagt.«
Großtantchen sah etwas unruhig aus. »O, sie werden dir gefallen! Sie kennen dich auch schon bis ins Kleinste. Es ist ein Ehepaar und die Schwester der Frau. Sie beschäftigen sich viel mit dem Seelenleben. Sie beschreiben das wissenschaftlich. Weißt du, wie man –«
Aber Großtantchen sprach bereits dazwischen. Sie fragte, ob sie das Schwarzseidene oder das Grauwollene anziehen sollte, und nach einigem Hin- und Herreden wurde für das Schwarzseidene entschieden.
*
Gefallen würden sie ihr, hatte Johanna gesagt, aber Großtantchen fand, dass das nicht das rechte Wort war. Sie konnte sich nicht so schnell an all das Sonderbare gewöhnen. Zu Hause, in ihrem Verein, hätte man einfach über diese Menschen gelacht. Schon die Trachten! Die Frauen trugen lose Gewänder, Johanna auch. Herr Mallwitz hatte eine Art Joppe an und hackenlose Schuhe. Und auch die Haarfrisuren sahen absonderlich aus. Das Haar war tief über die Ohren weggescheitelt. Fräulein Bieler trug sogar ihr hellrotes Haar ganz offen herunterfallend, darüber hinweg, wo sonst die Taille abschloss. Großtantchen kam das alles etwas unpassend vor. Sie atmete öfter tief auf und drehte sich hin und her, dass ihre feste Seidenkorsage knarrte und knackte, und stolz strich sie über die korrekt genähten Falten ihres Rockes.
Und diese Unterhaltungen bei Tisch! Nichts vom gewohnten Leben und Treiben! Von der Zubereitung der kleinen Teekuchen, die Großtantchen so gut schmeckten, wusste Frau Mallwitz nichts. Sie könne gar nicht kochen, verstand Großtantchen, aber sie mochte nicht genauer fragen. Auch waren bereits Gespräche im Gange über unentdeckte Seelenfähigkeiten. Johanna sprach erregt, und ihre Augen glitzerten unruhig. Mit Frau Mallwitz geriet sie in ein eifriges Streiten über den Astralleib, das Od, die Suggestion und andere Dinge, von denen Großtantchen noch nie gehört hatte. Johanna musste ihr später all die Worte wiederholen. Jetzt schwirrten sie nur so an ihrem Ohr vorbei, ohne haften zu können. Zudem wurde ihre Aufmerksamkeit von ihrem Nachbar in Anspruch genommen, der ihr von seinen Beobachtungen aus der »vierten Dimension« sprach. »Die Toten sind für mich lebendiger als die Lebenden«, sagte er.
Großtantchen überlief ein geheimes Gruseln, das aber von Johannas plötzlichem Auflachen verscheucht wurde. Auch Frau Mallwitz lächelte, und Johanna warnte sie vor Eifersucht. Da erst merkte Großtantchen, dass sie, in ihrer Eingenommenheit, unwillkürlich die schwarzen Haare ihres Nachbars zurückgestrichen hatte, die ihm fast in die träumerisch halbgeschlossenen Augen hingen. Und nun küsste er ihr sogar die Hand mit einem Lächeln, das, anstatt lustig und mokant zu sein, etwas Ernsthaft-Schwermütiges hatte! Großtantchen konnte sich nicht zurechtfinden.
Fräulein Bieler war sehr schweigsam. Blass und nervös lehnte sie in ihrem Stuhl, aß wenig und nichts von dem, das gelebt hatte wie sie. So drückte sie sich aus auf Großtantchens verwunderte Frage, als sie den Teller mit dem appetitlichen Aufschnitt immer weiterreichte, ohne davon zu nehmen.
Die Unterhaltung über die unverständlichen Dinge war immer lebhafter geworden. Zuletzt wurden Beweise für die Behauptungen auf beiden Seiten gefordert und angeboten. Man erhob sich hastig. Johanna klingelte der Aufwärterin, mit der sie den Tisch anfasste, um ihn in die Küche zu tragen. Da griff aber schon Herr Mallwitz zu. Alles ging so schnell, dass Großtantchen noch ihr »Gesegnete Mahlzeit« knixte, als sie bereits niemand mehr an ihrer Seite hatte. Sie beeilte sich, in den Kreis zu kommen, der sich um ein kleines Tischchen schloss.
Lautlose Stille trat ein. Die Spitzen der Endfinger ruhten übereinander auf der Tischplatte. Großtantchen fand es nicht recht passend, dass Herr Mallwitz dabei zwischen Johanna und seiner blassen Schwägerin stand. Aber niemand schien dabei etwas zu finden. Und wirklich, es dauerte nicht lange, so fing der Tisch an zu schwanken. Alle sahen starr und feierlich aus, und Großtantchen schrie vor Angst plötzlich laut auf.
Natürlich war die magnetische Wirkung dadurch gestört. Aber man machte gute Miene zum bösen Spiel. Die Tatsache war ja doch festgestellt: Der Tisch hatte »gerückt«. Alle waren in einer begeisterten Erregung. Großtantchen machte mit, obwohl sie leise Gewissensbisse hatte, denn was war das anderes als Zauberei? Aber sie war nun einmal mittendrin und wusste nicht, wie sie sich herausziehen sollte. Sie beschwichtigte die warnende innere Stimme mit allerlei Ausreden. Es war ja doch harmlos gemeint, eine Art Gesellschaftsspiel.
Fräulein Bieler bewies sich als wunderbares »Medium«. Einer nach dem andern fand die versteckten Gegenstände mit verbundenen Augen, wenn sie nur ihre Finger um das Handgelenk der Suchenden legte. Nur Großtantchen weigerte sich hierbei standhaft, sich zu einem Versuche herzugeben. Freilich war ihr das Ersatzspiel, das die Bresche füllte, auch nicht recht. Wie konnte Johanna sich von Herrn Mallwitz am Handgelenk herumführen lassen! Er verstand es auch sichtlich nicht so gut wie Fräulein Bieler, denn es dauerte viel länger, bis Johanna den Gegenstand fand.
Der Abend war schon weit vorgerückt, und die Spiele wurden immer wunderbarer. Etwa um Mitternacht wurde, nach Angabe der Frau Mallwitz, die Beleuchtung des Zimmers auf einen Punkt gedrängt. Der übrige Teil blieb in tiefem Dämmer. In der Helle, die das Licht der halbumhüllten Lampe warf, ruhte mit geschlossenen Augen das todblasse Fräulein Bieler. Ihr Haar leuchtete wie helles Gold um sie herum. Frau Mallwitz stand, von einer Draperie verborgen, neben ihr und richtete Fragen an sie. Eintönig und feierlich klangen die kurzen Sätze durch die Stille und Dunkelheit.
Die ruhende Gestalt veränderte sich. Sie sah bald nicht mehr aus wie die Gefährtin der Abendunterhaltungen. Ein fremdes Wesen schien sich dafür eingetauscht zu haben, das sich nur ihrer Hülle bediente, um sichtbar zu werden. Der Ausdruck der Züge und die Stimme gehörten nicht Fräulein Bieler an.
Was sie in sonderbar gequälten Tönen, die sich ihr wider Willen zu entringen schienen, antwortete, verstand Großtantchen nicht. Entweder war es eine fremde Sprache oder die Ausdrücke waren ihr so unbekannt, dass sie für sie eine sinnlose Aneinanderreihung von Worten bedeuteten. Johanna und Herr Mallwitz aber folgten mit der größten Spannung den Vorgängen. Einmal hörte Großtantchen den Namen »Sokrates« von seinen Lippen kommen. Bald darauf sagte Johanna voll Andacht: »Nietzsche!«, und in seliger Vergessenheit stammelte sie: »Wirst du uns wieder gehören?«
Aber das beunruhigte die Verzückte. Sie warf sich hin und her, und ihr Gesicht drückte physische Pein aus. Die Hand der verborgenen Fragerin wurde sichtbar und strich beruhigend über die liegende Gestalt hin. Da wurde Fräulein Bieler wieder still. Nach einer Weile fing sie plötzlich an aufzustöhnen, aber in einer kurzen behaglichen Art, und dann fragte sie in klagend vorwurfsvollem Ton nach den Wirtschaftsschlüsseln. Da antwortete von den Zuschauern her ein Seufzer: »Barbara!«
In dem Augenblick rief Johanna: »Genug, genug! Bitte, aufhören!« Herr Mallwitz sprang hinzu und riss die Verhüllungen von der Lampe, und seine Frau weckte ihre Schwester. Johanna aber hielt das ohnmächtige Großtantchen im Arm, und alle außer dem erschöpften Fräulein Bieler bemühten sich um ihre Wiederbelebung.
*
Eine Stunde später waren die Spuren des abendlichen Treibens verschwunden, und das Wohnzimmer war zur Nacht hergerichtet. Aber Johanna saß noch am Bett von Großtantchen, die sich in den Kissen aufgerichtet hatte und eine Tasse Pfefferminztee schlürfte.
»Ja, ja, alles ist wieder gut! Lass nur und sorge dich nicht mehr! Aber ich bitte dich, lass die Zauberei! Es ist schlimm genug für uns arme Menschen, dass es Geisterspuk gibt. Warum ihn auch noch herbeirufen?«
Johanna zuckte plötzlich zusammen, als habe das Wort sie körperlich getroffen. Deutlich sah sie den Spukabend in Großtantchens Hause vor sich. Damals hatte Großtantchen die Nervenerregungen für Geisterspuk gehalten, heute hatte sie, die Verstandesstolze, dasselbe getan. Sie hörte kaum, was die liebe alte Frau noch sagte, nur die leis klagende, heisere Stimme klang ihr zu Herzen. Immer spärlicher und müder fielen die Worte. Großtantchen war im Einschlafen. Sorglich rückte Johanna die Kopfkissen zurecht, schob ihr die Wärmflasche an die Füße und deckte das Federbett um sie herum. Dann sagte sie ihr zärtlich Gutenacht und löschte das Licht.
Sie ging in ihr Zimmer und öffnete das Fenster zum Schlafen. Da sah sie über den Bäumen des Gartens einen mattroten Streif aufdämmern. Grauweiße Wolken lagerten darüber. Johanna glaubte deutlich die Gestalt einer Sphinx zu erkennen. Unerreichbar thronte sie über der Morgenröte. Ihre weißen Augen sahen mit stolzem Mitleid herab, und ihre Lippen bewegten sich. Höhnisch schwirrte es vor Johannas Ohren:
»Geisterspuk! Geisterspuk!«
Textnachweis
Aus: Das Magazin für Litteratur [sic], 69. Jg., Nr. 38, 1900, Sp. 633–637, 663–666. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)
Titelbild
Detail aus: Olga Boznańska, Blick aus dem Fenster, 1900