von Marie Holzer (1874–1924)

Er stand im weiten eleganten Wartezimmer des Arztes. Als Letzter war er eingetreten. Die meisten Fauteuils waren besetzt. Er grüßte stumm und blieb vor einem tiefhängenden Schlachtenbilde stehen, das dicht bei der Türe hing. Er sah darauf – gespannt, lauernd, als wollte er ergründen, was hinter der Stirn jener Männer geschrieben stand. Seine Gedanken gingen dieselben Wege wie die der Krieger dort, einen Weg wohl, doch ohne jenen Beigeschmack, doch ohne jenes Lustgefühl, das wohl das Herz so manches dieser Leute schlagen lässt.
Die Augen des Offiziers dort glänzten wie im Fieber, und aus dem Blick jenes Soldaten leuchtete ein Rachegefühl, aus den kraftvollen Bewegungen eines anderen sprach verwegener Mut. Doch dieser hier, der Letzte fast, ja, in seiner ganzen Haltung, in seinem Gesichtsausdruck, da lag deutlich völlige mutlose Resignation – nein, nicht Resignation – Furcht – ja, ja, Furcht, und doch musste er mit – in den Tod.
Sterben! Das ist das Ende jeden Weges, jeder Gasse. Alle Wege führen ins dunkle Reich – alle. Doch es gibt Umwege – weite – lange – beschwerliche – immer gleich weit – gleich – lang – öd – staubig – endlos, dass man sich endlich gerne hinlegt und ausruht …
Doch gibt es auch andere, die durch Gärten führen; mit knospenden Sträuchern, mit blühenden Blumen, mit weiten Rosenflächen, mit verschlungenen Pfaden und Rosen am Wegesrand, die weit, weit von der Ausgangspforte liegen, die einen immer wieder in den Bann des Lebens ziehn, mit ihren Zaubermärchen, mit ihrem Liebesgeflüster, mit ihren Blumenketten.
Aber steile Wege gibt es auch, knapp und eng, über Geröll und Steinfelder, aber die führen in die Höhe, alles hinter sich lassend in der Tiefe. Die ziehn uns mit tausend Armen hinauf in die frische, freie Luft, wo man aufatmen kann, tief und frei, und allein ist.
Allein? Allein ist man auch in der Tiefe, in der Erde, und vor dem Alleinsein graut ihm.
Ein Zittern überfällt ihn, ein krampfartiger Husten.
Die Diele knarrte. Ein ungeduldiger Patient hatte sich erhoben, oder war ein neuer eingetreten. Dann wieder ein Räuspern. Es sah nicht auf. Dann huschte jemand vorüber. Ein entlassener Patient wohl. Die Portière, die vor der Türe hing, wurde einen Augenblick beiseitegeschoben und ließ einen Lichtschein hereinfallen – dann glitt sie wieder langsam zur Erde. Er rührte sich nicht. Er kam noch nicht dran. Noch eine kurze Galgenfrist lag zwischen jetzt und später? Jetzt gab es noch ein Später – bald nur noch ein Jetzt und dann – dann nichts mehr – dann Ruhe – Stille – kein Bewusstsein – kein Erwachen – kein Schmerz – keine Angst – nichts – nichts – alles ringsum tot – schwarz. Das Ticken der Uhr verstummt – das Bild vor ihm versunken – der Lichtschein, der durch die Tür ins Zimmer fiel – weg alles weg – – – – – Nein, nein, alles bleibt, die Uhr tickt weiter – der Lichtschein fällt durch die Türe herein, des Morgens, des Abends, so oft ein Patient geht und kommt, das Bild an der Wand bleibt hängen – nur er – er ist nicht da – alles andere bleibt.
Sterben muss er. Jetzt beim Erwachen des Frühlings, beim leuchtend blauen Himmel, beim ersten Sprießen junger Knospen, beim Blütenduft, der wundersam die Luft durchzieht. Sterben – sterben!
Warum nicht im Herbst, wo alles zur Ruhe geht? Wenn der Himmel dicht verschleiert ist, wenn kalte Winde über die staubige Straße fegen und die Blättchen von den Bäumen rütteln – nicht jetzt – Gott, nicht jetzt – wo alles zu neuem, jungem, kräftigem Leben ersteht – nicht jetzt. Und doch, er fühlt ja deutlich, wie die Kräfte schwinden, täglich, stündlich – dass das Frühjahr mit der schönen, würzigen Luft ihm den Tod bringen wird. –
Frische Blüten erstehen, und die dürren Blätter müssen fallen! Die Natur geht schmerzlos schlafen – denn sie erwacht wieder. Schlafen und Erwachen, wie schön! Aber schlafen – immer schlafen – ohne Ende – morgen – übermorgen – immer. Immer? Was heißt das, immer? Was war immer – und was wird immer sein, sind die Blättchen dieselben und war er immer derselbe oder hatte er hundertfache Gestalt? Zuerst ein Wickelkind, in dem die Gefühle leise dämmern, dann ein kleiner, zärtlicher Junge, dann ein munterer, ausgelassener Schulbub, ein wilder Knabe, dann ein Hochschüler mit tausend Träumen und Wünschen, voll Kampfeslust und Jugendkraft und Begeisterung – dann ein Mann, ernst und strebsam – und endlich ein Bürokrat, pflichttreu und bitter – weil die Welt so eng wurde – und so anders. Nichts ist ihm geblieben als der Name, und auch der hatte so verschiedenen Klang.
Alles hat sich geändert, alles. Die Gedanken – die Gefühle. Ja Gedanken – Gefühle – Wünsche – hatten so verschiedene Färbung – zuerst rot – hell – leuchtend – dann matter werdend – immer matter. Die Hoffnungen sind andere geworden – alles ist anders geworden – alles –
Aber die Gedanken, die Gefühle, die Wünsche, die gehen nicht zugrunde, auch wenn er fort muss. Die Gedanken waren nicht sein, auch wenn er sie gedacht. Sie liegen in der Luft wie die todbringenden Keime. Ein Windhauch bringt sie uns zu. Wir atmen sie ein mit dem Blütenduft im Morgentau, und in dem eine setzen sie sich fest und leben fort, entwickeln sich, und der andere bleibt unberührt davon – von den Keimen – von den Gedanken.
Und was er erlitten, was er gehofft, gefühlt, geträumt, leiden, träumen, hoffen und fühlen andere – andere, die nach ihm kommen und denselben Weg gehen – denselben Weg abwärts in die Tiefe.
– – – – – – – – – –
Er steht und denkt und hört nicht das Kommen und Gehen der Leute – hört nicht ihre Worte – hört nicht ihren Gruß. Er starrt auf das Bild der Krieger, die ihm voran in den Tod reiten und denen er folgen muss – willenlos.
Die Sonne ist untergegangen mit einem letzten warmen, roten Aufleuchten, und das Zimmer liegt im grauen Dämmerschein. Da öffnet sich die Türe und ein Diener tritt ein.
»Verzeihen, mein Herr. Die Sprechstunde ist vorüber. Der Herr Professor ist fort, soll ich Sie vielleicht für morgen aufschreiben?«
Er sieht den Diener an – ungläubig – verständnislos, und dann stürzt er auf die Gasse …
Textnachweis
Aus: Czernowitzer Tagblatt, Nr. 1556, 16. April 1908, S. 1–2. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)
Titelbild
Detail aus: Olga Boznańska, Skizze für ein männliches Porträt, um 1900