Wie man’s nimmt

Eine Dorfgeschichte von Maria Stona (1861–1944)

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Die alte Hebamme saß vor ihrem Bretterhäuschen, strickte, schaute die jungen Mädel an, die über die Straße gingen, und prüfte, ob ihre Gestalt sich nicht verändere, denn man erlebte vieles im Dorf, an Mädeln und Witwen, an den jüngsten und an den ältesten, besonders wenn der junge Herr Baron zu Hause gewesen war, ehe er eine seiner Weltreisen angetreten hatte. Er liebte das Dorf und wollte gern, dass man liebend seiner gedachte, lange – mindestens neun Monate lang.

Ging da die Kleine vom Strohbauer vorbei – ein dummes Ding, zählte vierundzwanzig Jahre und hatte noch nie einen Schatz gehabt. Heiraten mochte sie auch nicht. Wenn der alle Mädchen nachgerieten, gäb’s bald keine Kinder mehr auf der Welt … Dort kam die brave Barbara – so schmutzig, dass man sie auf zwanzig Schritte spürte – sie hatte fünf Mal geboren und alle Kinder trugen der Mutter Mädchennamen. Aber sie war nicht schmutzig im Schenken, die Brave! Gott segne sie. Leider hatte sie die Fünfzig überschritten, und wenn auch die Frauen des Dorfes von wunderbarer Fruchtbarkeit waren – nach dem fünfzigsten Jahre zeitigten sie selten ein Kind, da durften sie ungelohnt sündigen …

Die Alte nickte der Vorübergehenden zu: »G’sund alle – seid’s brav g’sund?« Ihr Gesicht blickte verschmitzt aus hundert Fältchen. Die Augen schauten immer listig und die Lippen umspielte ein nie verlöschendes Lächeln.

»O ja – aber zu viele sein mer halt – alle muss ich erhalten«, grinste die Barbara mit ihrem breiten Maul.

Dummes Luder, dachte die Alte. Glaubst, ich glaub’ dir das! Weiß doch, dass andere für dich sorgen – viele – brave Fäuste, viele Fäuste …

Die Barbara schleppte weiter die zwei Butten an dem Holzträger, den sie über den Schultern hielt.

Kam die sechzehnjährige Therese. Ein braves Kind, dachte die Alte. Wächst schön auf, wird ein tüchtig’s Mädel. Wenn da nur kein Unglück geschieht … Sie geht öfter ins Schloss – ein Wunder, dass der gnädige Herr die Augen noch nicht aufgemacht hat.

»No, Reserl«, rief sie freundlich, »was machst denn nur? Bist schön brav und fleißig! Schaust gut aus! Wie geht’s denn der Großmutter und der Mutter?«. Sie fragte nur aus Höflichkeit, denn bei beiden stand nichts mehr zu erwarten. Die Großmutter zählte siebzig, und ihre Tochter war auch schon bei Jahren, die arme Wittib, die sich genug abgerackert hatte mit dem Seligen und ihren sechs Kindern. No, die Therese sollt’ es ihr einmal lohnen.

»Wo ist denn die Mutter?«

»Sie wascht im Schloss, ich geh’ nur bissel zu ihr schau’n.«

»Na schön, Reserl, bist schon brav, schau aber auch nach der Großmutter, die braucht’s noch mehr!« Therese ging mit dem Kinderschritt der Sechzehnjährigen, mager, gedankenlos. Eh’ nicht ein bissel Fülle in sie kommt, ist nichts mit ihr, dachte die Alte. Sieht ja aus wie ein unterrupftes Huhn.

Jetzt humpelte die Dorfälteste vorbei, die Portiunkula. »O Ježiš – Ježiš – ’s is schon a Kreuz – sitzt denn noch immer da und wart’st auf den großen Störchezug? Na ja – na ja! Mir is schon alles eins – ob’s Kinder kriegen oder ni’. Brauchst erst ni’ zu antworten – ich hör’ dich doch ni’.«

Die Hebamme aber schrie: »No ja – no ja – gehst ja wieder ganz brav ’rum!« Die stirbt auch nicht von selbst, dachte sie, da muss der Herrgott noch was erfinden, um die ’rüber zu kriegen.

»I sitz’ halt so und strick’ und hab’ meine Gedanken.«

Die Portiunkula ließ sich neben ihr nieder wie ein alter Raubvogel, der auf einem Stein rastet. Sie blinzelte schläfrig aus den halbgeschlossenen Augen. »No – was gibt’s denn Neues?«

»Nix – dass ich wüsst’!«, schrie die Hebamme.

»Hast denn nimmer die Augen offen? Siehst denn ni’, wie sich die Mädeln verändern, wie s’ blass und mager im Gesicht werden und dick um den Magen? A sechse, sieben kunnt ich dir so weisen. – Gehst denn ni’ am Vollmond zum Kirchhof ’rüber und schaust dir die Gestalten an, wie s’ herhuschen und die Zweigel vom Lebensbaum rupfen und husch – wie der Blitz damit verschwinden? Fallt dir denn das alles nit auf?«

»O ihr sakermentischen Mädel! Die Folgen der Liebe möchten sie wohl vertilgen. Die Biester, die nichtsnutzigen. Na wart’s, ich wär’s euch geben –«, wetterte die Hebamme. »Wenn ich nur so eine erwischen kunnt, gleich zeiget ich’s dem Gericht an – bei meiner Seel’.« Wütend war sie. »Das fehlte noch, so ein verfluchtes Trankerl möchten sich die Weibsbilder brauen – dass die Welt auf einmal steh’nbleibt und sich nimmermehr vermehrt – no, da schaut’s einmal an!« Das Strickzeug fiel ihr aus der Hand. Sie stemmte die Arme in die Seiten und sah die Älteste an. »Nicht zum Glauben, Großmutter, was Ihr mir da sagt’s!«

»Ich werde dir noch was deuten«, raunte die Portiunkula geheimnisvoll. Ein paar graue Haarsträhnen fielen ihr steif über die gelbe, verwitterte Stirn. Sie schaute über ihren Kropf hinweg schräg zur Nachbarin und flüsterte: »Jetzt hab’n mer g’rad’ Vollmond. Setz dich halt heut’ Nacht auf’n letzten Grabstein am Friedhof, dort, wo das Kind vom Lehrer vor vierzig Jahren begraben wor’n is – wirst es schon noch wissen, denk’ ich – die Lehrerin daneben –.«

Freilich wusste es die Hebamme, aber die alte Hexe musste sie nicht g’rad’ dran erinnern, ’s gab Grabsteine genug am Friedhof, versteckt unter hängenden Eschen – sie wird sich doch nicht auf den Stein von der setzen, die sie unter den Stein gebracht hat! Niemand dachte heut’ mehr dran im Dorf als die Älteste da. Na mei, ein Unglück passiert jedem einmal. Der Hebamme seltener wie jedem Doktor – wenn der erst auf’n Friedhof ging, der müsste lang suchen, bis er einen Stein fänd’, zu dem ihn die Schuld nit ’runterzieht. Und die Lehrerin, schwächlich war’s ohnehin – die wär’ heut’ sowieso längst schon tot. Aber das mit dem Aufpassen am Abend wär’ nit schlecht.

»Also, was meinst? Gehst heut’ Abend ’naus?«

»Wer’ mir’s noch überlegen«, sagte die Hebamme. »Wenn ich käm’, tät’ ich’s nur, um die Mädel vor der Sünd’ zurückzuhalten.«

»Und dir ein Einkommen zu sichern, alte Kupplerin«, dachte die Portiunkula. »Also schön, mach’ halt, was du für gut find’st – «, stand dann auf und hinkte davon. Der blaue, fadenscheinige Rock schlug um ihre dürren Beine.

Die Hebamme blieb in Gedanken sitzen, stand dann auf und ging in ihre Kammer, kam wieder heraus, sah auf den Himmel. Der war schön klar wie lange nicht. Der Mond hob sich blutrot und breit in der Rundung, wie ein schwangeres Weib. –

Die Dorfstraße wurde still und leer. Ein leiser Wind seufzte durch die Obstbäume hinter den Häusern, merkwürdig weiß glänzte manches Mauerwerk, das am Tag grau und rissig war. Im letzten Haus drüben blinkte noch Licht; dort lag das Weib des Nachtwächters im Sterben, seit acht Tagen schon, und keine Erlösung wollte ihr kommen. Was der Mann allein an Kerzen- und Nachtlichtern verbrannte – flog es der Alten durch den Sinn. Sie schlug ihr dickes Schaltuch um Kopf und Schultern und Leib und Knie – so groß war das Tuch, dass es die ganze Hebamme in seine Falten hüllte.

Jetzt schlich sie auf die Straße. Da dröhnten Schritte. Rasch kroch sie wieder ins Haus zurück und wartete, bis die Männer vorbeigegangen waren, die zum Sonntag in das Nachbardorf zogen, aus der Wochenarbeit kommend. Sie hatte Herzklopfen. Ihr war, als stände sie im Begriff, ein Unrecht zu begehen, und nicht, als ginge sie daran, ein paar Verirrte von der Sünde wider das Leben abzuhalten.

Sie stahl sich durch das Dorf, an dem Marmorkreuz des Antonin vorbei, von dem die heimliche Sage raunte, dass er es aufgerichtet, weil ein Mord seine Seele bedrückte.

Der Mond leuchtete auf das Kreuz so hell, als habe er es mit reinem Himmelswasser übergossen. Kam ein schmaler Durchweg zwischen Gärten, da hingen die Pflaumen so schwer an den Bäumen, dass die armen Zweige fast niederbrachen. Eben knickte ein Ast zusammen, stöhnend unter der Überfülle seiner Früchte. »Habt’s auch genug zu tragen – gelt? – Die Blüten – das war halt lustiger als jetzt die schweren Zwetschen. Ja – was unser Herrgott halt einmal beschließt –«, murmelte die Alte. Ein Hund schlug an. Ein paar Köter folgten dem Laut und kläfften mit, und bald zog durch das ganze schlafende Dorf das Hundegeläute, zornig, langgezogen, abwehrend irgendeine dunkle, unbekannte Gefahr.

Der Friedhof lag im Mondschein, der schimmerte von mancher Kreuzeszier. Nur drüben an der Mauer, wo die Traueresche der Lehrerin hochgewachsen war, gab es tiefen, schwarzen Schatten. Auch im Kirchtor – aber dort war’s zu unheimlich zu kauern, schlug sich leicht einem ein Glockenstrang ums Genick.

Die Kirche stand hochgebietend, von Licht überflutet, still und weihevoll. Und zu denken, dass drin das Allerheiligste ruhte und der goldene Altar, von den vielen Heiligen bewacht – was brauchte man sich da zu fürchten, so nahe an Gottes Schutz!

Mutig ging die Alte unter die Traueresche, hockte sich nieder und lauerte zum Grabe der Gutsherrin hinüber, das von acht Zypressen umgeben war. Wie schwarze, hohe Wächter standen sie. Drüben im letzten Winkel blieb es finster, dort, wo die Bettler und Selbstmörder eingescharrt lagen. Wie spät mochte es wohl sein? Gewiss nahte Mitternacht … Der Lehrersfrau wird’s doch nicht einfallen, aufstehen zu wollen … Lag ja dort unten so schön und friedlich, war vielleicht gar in die Wurzeln der Esche verwachsen. Die trugen sie jetzt schon zum Himmel empor.

Dass der Nachtwächter nicht blies! Der schlief gewiss bei seiner Sterbenden.

Die Hunde schlugen wieder an, eine Wolke zog vor den Mond und verdunkelte die Welt. »Eine so kleine, dumme Wolke – die soll doch wirklich der Satan holen«, murmelte die Alte. Rieseln und Rascheln ruschelte umher wie von Schritten und fallenden Blättern – und nichts war zu sehen.

Endlich ward es heller – die Welt tauchte in ein mildes Grau – da – jetzt blitzte es wieder licht über die Kirche – und jetzt – barmherziger Himmel – stand eine Gestalt an den Lebensbäumen und rupfte und zupfte …

Der Lauschenden stockte das Herz – hatte die Portiunkula wirklich recht gehabt!

Was nun – soll sie aufspringen – rufen – dann liefe die Gestalt weg und nie mehr erführe die Alte, wer da sündigen gewollt. Und die Neugier war doch jetzt stärker als jedes andere Gefühl. Wissen wollte sie – wissen musste sie – sie bewegte sich. Da blieb die Gestalt regungslos und lauschte nach der Eschenecke hinüber, in der die Alte saß. Der ward mit einem Male, als umständen viele blasse Gestalten die Zypressen – als begännen rings die Grabsteine sich in weiße Mädchen zu wandeln und den Bäumen zuzuschreiten, langsam, mit einer Würde, einem Ausdruck im zögernden Schritt, als schleppten sie lange, fließende Gewänder nach sich … Und die Lebensbäume beugten sich im leisen Wind und ein Stöhnen ward hörbar, ein schmerzvolles, geheimnisvolles Ächzen, das klang, als käm’ es aus fernen Welten her, als schweb’ es von den Sternen nieder, als quell’ es aus den Gräbern vor …

Die Alte brach zusammen in ein Kauern und stierte vor sich hin nach dem seltsamen Zug. – Ihr schien es, als trügen die Toten alle in ihren aufgerafften Gewändern kleine zitternde Kindlein und wandten sich nun wieder zu den Gräbern und hinter ihnen flossen die langen Säume, über Hügel und Gräser hinspielend wie Wässerlein … Nur eine stand noch immer bei den Zypressen und pflückte. Jetzt wandte sie sich zur Kirchentür, mit einem vollen Schoß, der weit abstand durch die Frucht ihres Leibes und die vielen sterbenden Ästlein, die sie trug. Sie brach auf den harten Steinen nieder und wimmerte ein Schluchzen hervor, so bitterlich, so schwer bedrückt, als trüg’ es hunderttausend Sorgen und nicht nur eine einzige.

Die Alte schlich näher, ganz nahe. Sie hätte den Rock der Liegenden ergreifen können. Aber das wollte sie nicht – sie wartete, bis der Leidausbruch vorüber sein würde und die Armselige sich erhob.

Jetzt zog sich die Verzweifelte langsam vom Boden auf, wandte sich um, prallte erschrocken zurück, verbarg ihr Haupt in den Händen und schlug gegen das Tor. Das gab einen dumpfen Laut, der hallte durch die ganze Kirche, drohend, wie ein dröhnendes Grollen, das zu Gottes Ewigkeit aufstieg.

Die Alte zitterte. Wie ein Frevel schien ihr der Wagemut der Unerkannten, die da vor ihr in das Allerheiligste zu flüchten sich unterfangen wollte.

»Still« – zischte sie – »still, nimm Vernunft an – ich bin’s – die Mutter Waser – so zeig dich doch – wer bist denn du? Ich tu’ dir nichts – als höchstens dich beraten …«

Sie zupfte die angstvoll von ihr Fortstrebende am Kopftuch, an der Schulter und suchte mit den kleinen Augen ihren Rücken zu durchdringen. Die Neugier stach die Alte wie eine Pein.

Da wandte die Verhüllte langsam das Haupt und ließ die Hände sinken.

Die Hebamme stieß einen Ruf aus – »Jesus Maria – du – !« Zu jäh war der Schrecken. Statt des jungen Mädchengesichtes, das sie erwartet, zeigte sich ihr das verhärmte Antlitz einer alternden Frau, der tugendhaftesten im Dorf, der armen Wittib, die mit sechs Kindern und der siebzigjährigen Mutter wohnte und im Schloss die Wäsche wusch.

»Alschbieta – um Gotteswillen – was ist dir begegnet?«, zitterte die Hebamme.

Alschbieta sank nieder, in verzweifeltem Schluchzen umklammerte sie der Alten Knie.

»Helft mir, Mutter Waser, helft mir, rettet mich vor der Schande!«

»Ich bin noch ganz wirr – komm, steh auf, wir setzen uns hier unter das Kreuz vor der Kirche – und du erzählst mir alles – wer – wer ist denn der Vater?«

»Ihr fragt noch? Wer ist denn hier der Vater von allen – unser Vater – können alle Kinder gleich beten – o Mutter Waser, ich hab’ mich gewehrt – Ihr könnt’s mir glauben …«

»Das schwört’s ihr alle«, sagte die Alte, »erst spielt’s ihr mit dem Feuer, und wenn’s euch dann in der Gewalt hat, wehrt’s ihr euch – dir mag’s halt geschmeichelt haben – so ein feiner junger Herr –.«

Der Mond schien hell auf das blasse, abgezehrte Gesicht, aus dem die großen Augen verzweifelt blickten.

»Was soll ich tun – ich spring’ ins Wasser –«

»No das fehlte gerade!« Die Alte wollte Alschbieta trostreich zulächeln und lächelte doch immer nur verschmitzt. »Sei doch gescheit – gar so groß is ja das Unglück nit – musst es nur recht bedenken. ’s kommt alles drauf an, dass man’s von der richtigen Seite anschaut. Jetzt bist halt in gesegneten Umständen – besser, dir is es passiert als deinem Reserl –«

»Das is wohl wahr!« Alschbieta war, als hätte sie dem Kinde zuliebe ein schweres Opfer gebracht. »Aber die Mutter schaut mich ni’ mehr an – –«

»Die Mütter, die Mütter, die sind immer dumm. Die deine hätt’ dich auch nicht angeschaut, wenn du heut’ noch verheiratet wärst –«

»Das is wohl wahr!«, nickte die Frau.

»Na also, da kommt’s auf eins heraus –«

»Aber die Schand?«

»Schaaand?« Mutter Waser dehnte das Wort. »Wie man’s auffasst. Sixt, bissel Spaß hat’s dir halt doch gemacht, wie der junge Herr dir nachgestiegen ist – jeder macht’s Spaß – Glaubst, der alten Portiunkula möcht’s ni’ auch Spaß machen, aber das dürre Luder is halt zu alt, die schaut kein Teufel mehr an –«

Ein Pfiff sauste durch die Luft, der kam von der Gräberseite her.

Sie lauschten eine Weile. Dann schwatzten sie ruhig weiter, zu zweien fürchteten sie sich nicht.

»Wirst ein wunderschönes Kind kriegen«, zischelte die Alte. »’s wird vielleicht das schönste von allen – schöner, als die von deinem schwindsüchtigen Mann sind – wird noch einmal dein Trost sein – Bist ja so eine saubere Person – sixt, alle im Dorf haben dich für alt gehalten; kein Mann hat dich mehr angeschaut –«

»Das is wohl wahr« – die Wittib hob den Kopf und sah der Trösterin frei in die Augen.

»Und jetzt werden sie merken, dass du eine bildsaub’re, junge, begehrenswerte Person bist! Pass auf, wie die Freier sich melden werden – denn ärmer wirst auch nicht wer’n durch das neue –«

»Gott gäb’s –«, Alschbieta faltete mit frommem Blick die Hände.

»Also – alles in allem betrachtet, is a Riesenglück über dich gekommen«, tuschelte die Alte eifrig. »Und das wollt’st jetzt so in’ Wind schlagen. Sei g’scheit, überleg’ dir’s, mach kei’ Dummheit, geh nach Haus, schlaf dich aus, lass die Lait reden – ’s is der pure Neid bei die meisten. Die sich gar so tugendhaft spreizen, die sind halt nie in Versuchung gekommen, haben nie ein junges Herz gehabt, waren schon in der Wiege alte Schachteln.«

Die welke Witfrau fühlte sich unter solchen Worten jung, schön, begehrenswert und heißblütig werden. »Mutter Waser – ich dank’ Euch vielmals …«

»Sobald es an der Zeit is, ruf mich und lass die alten Schachteln wie die Portiunkula reden, was sie wollen, wenn dei’ Schand’ oder dei’ Glück an den Tag kommt –«

Ein zweiter Pfiff sauste, ein Stein flog von irgendwo nahe an den Frauen vorbei und schlug an die Kirchenwand.

»Jessus, jetz’ wird’s gefährlich – jetz’ kommen die Geister auf!«, zitterte die Alte. »Schau’n wir, dass wir nach Haus’ finden –«

Sie hatte genau gemerkt, dass der Stein vom Grab der Lehrerin hergeflogen war. Heiliger Gott – wenn da ringsumher ein paar Hände lebendig würden!

Die Frauen schlüpften durch das Gittertor. »Ihr seid’s mein Schutzengel«, flüsterte Alschbietta, »Ihr habt’s mich dem Leben wiedergegeben –«

»Hört es, ihr Heiligen«, betete die Alte, »und schreibt es mir gut.« Laut sagte sie: »Man muss nur jedes Ding nach allen Seiten überlegen, ’s trifft sich immer ein Fleckerl, an dem man seine Freud’ haben kann.« Sie war entschlossen, beim Jüngsten Gericht ihre Sache selber zu führen. Im Dorfe begegnete sie dem Nachtwächter. »Endlich is mein Weib gestorben«, sagte er.

»Sankt Petrus wird der armen Seele das Himmelstor aufmachen«, tröstete die Hebamme. Die einen gingen und die anderen kamen. So hatte es der Herrgott eingerichtet. Ihr waren die Kommenden wichtiger als die Scheidenden.


Kommentar
Maria Stona war Schriftstellerin und Besitzerin von Gut und Schloss Strzebowitz bei Mährisch-Ostrau (tschech. Ostrava), unweit der Grenze zu Schlesien. In dieser mehrsprachigen Grenzregion ist ein großer Teil ihrer Erzählungen und Novellen angesiedelt, so auch die 1909 erschienene ‚Dorfgeschichte‘ Wie man’s nimmt. Obwohl sich die Geschichte durch subtilen Humor auszeichnet, der vor allem in der leicht ironischen, aber doch wohlwollenden Charakterisierung der Protagonistinnen zutage tritt, behandelt sie im Kern ein ernstes Thema: ungewollte Schwangerschaften und die damit einhergehende soziale Ächtung der betroffenen Frauen. Angespielt wird dabei auf die früher weit verbreitete Praxis, Abtreibungstränke aus den Zweigen des Lebensbaums (Thuja occidentalis) zu brauen. Obwohl der darin enthaltene Wirkstoff Thujon tatsächlich zu Blutungen der Gebärmutter führen kann, waren diese Abtreibungsmittel nur bedingt wirksam, dafür aber für die Schwangere lebensgefährlich: Die Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Vergiftung war höher als die eines erfolgreichen Schwangerschaftsabbruchs.

Textnachweis
Aus: Die Muskete, 3. Juni 1909, S. 74–77. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Marianne von Werefkin, Erinnerung, 1907–1908


Contentwarnung: Vergewaltigung, Victim Blaming

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