Agnes

von Maria Lazar (1895–1948)

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Die Geschworene Marie Obermaier, Inhaberin der größten Gemüsehandlung im Bezirk, rückt auf ihrem Sitz hin und her. Sie hat ihr Sonntagskleid an, nur dass sie den weißen Spitzenkragen gegen einen schwarzen vertauscht hat. Ihr Mann hat gesagt, das schickt sich so.

Jetzt steht er wohl bei den Spinatkörben oder er zählt die Eier ab. Sie seufzt auf, starrt erschrocken in den düsteren Saal. Noch nie war sie bei Gericht. Der Vorsitzende verliest mit tonloser Stimme die Daten des Angeklagten. Was die Kundinnen wohl sagen werden, wenn sie heute nicht im Geschäft ist.

Neben ihr, die andere Geschworene, ist eine Gebildete, schreibt sogar für Zeitungen. Sie trägt eine Brille. Mit verkniffenen Lippen betrachtet sie den jungen Burschen, der zwischen den beiden Justizsoldaten sitzt. Sonst aber sind rundum lauter Männer mit gespannten Gesichtern. Die Geschworene Obermaier fährt sich über die Stirn. Sie muss auch gut aufpassen, das ist ihre Pflicht, hat ihr Mann gesagt.

*

Der Angeklagte Anton Ruß, ein arbeitsloser junger Kellner, hat eine traurige Kindheit hinter sich. Ein betrunkener Stiefvater, keine Schulbildung, Prügel und Hunger. Er sitzt, die Hände vors Gesicht geschlagen, die dichten schwarzen Haare hängen ihm über die Finger. Manchmal schluchzt er auf. Dann nickt die andere Geschworene bedeutsam mit dem Kopf.

An einem Sonntagnachmittag im Frühling hat er in einem Gasthaus seine Braut, eine junge Kontoristin, erstochen. Eifersucht. Sie wollte von ihm nichts mehr wissen, hatte ihm einen Reicheren vorgezogen. Die andere Geschworene schüttelt missbilligend den Kopf.

Der Obmann der Geschworenen räuspert sich.

Die Stimme des Richters wird sehr mild, wie er mit Fragen auf den Schuldigen eindringt.

Hinter dem hohen Fensterkreuz sieht die Geschworene Marie Obermaier ein Stück blauen Himmel. Der Bursche tut ihr leid. Sie schaut auf ihre gefalteten Hände, schuldbewusst, als ob sie es wäre, die da verhört wird.

*

»Sie hat also mit Ihnen gespielt?«, fragt der Richter.

Da meldet sich die andere Geschworene zum Wort. »Und war es das erste Mal, dass dieses Mädchen, wie hieß sie doch, diese …«

»Agnes«, sagt der Angeklagte. Er steht jetzt kerzengerade.

»… dass diese Agnes …«

*

Marie Obermaier greift nach ihrem Stuhl. Ihr ist auf einmal, wie wenn im Schlaf das sichere Bett plötzlich zum Abgrund wird; entsetzt fährt sie auf, krampft die Hände in die Decke.

Ihre Agnes, die sitzt doch jetzt lebendig in einer Kanzlei und tippt. Oder sie isst gerade ihr Frühstücksbrot. Nun, das Mädchen hat eben auch Agnes geheißen. Das kommt vor.

Ganz böse schaut Marie Obermaier um sich. Was geht sie das an, diese fremden Leute und dieser Saal und dieser Mensch da vorn, der sein Messer in einen Mädchenleib gestoßen hat? Der Staatsanwalt mit seinem Barett sieht aus wie auf dem Theater. Sie möchte nach Hause gehen, Mittagessen bereiten für den Mann und für ihre Agnes.

»Sie hat Sie also sehr gereizt?«, fragt der Richter.

Ihre Agnes, die hält auch gern die Burschen zum Narren. Hübsch ist sie, und wenn sie auch einmal im Geschäft steht mit ihren krausen blonden Haaren, dann drängt sich plötzlich lauter Mannsvolk zwischen die Weiber mit den Einkaufstaschen. Und die Agnes lacht …

»Ausgelacht hat sie Sie?«, fragt der Richter. Die andere, die jetzt tot ist, die ist wohl auch hübsch gewesen, hat sich auch noch für keinen entscheiden können. »Mutter«, hat erst gestern ihre Agnes gesagt, »weißt, ich hab’ Zeit.«

Hasserfüllt starrt die Geschworene Marie Obermaier auf den jungen Mörder.

*

»Schlecht ist sie nicht gewesen«, sagt die Hausfrau der Ermordeten, »aber leichtsinnig, furchtbar leichtsinnig. Immer wieder ein neuer Hut und seidene Strümpfe.«

Ganz rot wird die Marie Obermaier. Am 15. hat ihre Agnes Geburtstag. Sie hat ihr auch ein Paar Seidenstrümpfe vorbereitet.

»Ernst hat sie es nie mit ihm gemeint«, sagt die Freundin des toten Mädchens.

Ja, hat denn die Agnes überhaupt schon einen ernstgenommen?

»Nun sprechen Sie doch!«, redet der Verteidiger auf den jungen Menschen ein. »Sie sehen ja, man meint es gut mit Ihnen.«

Die Geschworene Marie Obermaier ballt die Fäuste.

»Weil ich sie so gern gehabt hab’«, sagt der Angeklagte.

Ja, vom Gernhaben hat der Obermaier auch immer gesprochen. Damals schon, wie er sie von dem Standplatz auf dem Markt in seine feine Gemüsehandlung geholt hat, und gar erst, wie er sie geheiratet hat. Keinen anderen hat sie anschau’n dürfen, er hätte sie erschlagen.

Und deshalb hat sie ihm das Haus so gut geführt und das Geschäft, deshalb stellt sie ihm jeden Abend die Pantoffel vor das Bett, hängt den Schlafrock über die Sessellehne.

»Ein braver, fleißiger Bursch ist er gewesen«, sagt der Gastwirt, bei dem der Angeklagte einmal bedient gewesen war.

Die Marie Obermaier schaut den Richter herausfordernd an. Wie der redet! Wie auf dem Theater. Ihre Agnes aber will gar keinen braven, fleißigen Burschen.

*

Da legt der Gerichtsdiener etwas auf den Tisch, etwas Zartes, Blaues, Luftiges – ein Mädchenkleid. Und daneben ein rostiges Brotmesser. Oder sind die braunen Flecke Blut?

Die andere Geschworene streckt den Hals lang vor. Die Geschworene Marie Obermaier flieht mit den Augen von dem blauen Mädchenkleid zu dem blauen Himmel hinter dem Fensterkreuz.

Ihre Agnes – die hat auch – so ein blaues Kleid …

»Und da haben Sie sie in den Rücken gestochen?«, fragt der Richter.

»Jawohl. Weil sie ihn geküsst hat.«

Die Geschworene Marie Obermaier ist aufgestanden. Ganz allein steht sie in der Reihe der anderen, die geduckt auf sie schauen.

»Es ist nur – ich wollt’ nur fragen – ja, hat das Mädel denn keine Mutter?«

Die andere Geschworene zieht sie am Rock zurück. Der Richter blickt sie missbilligend an. Die Verhandlung geht weiter.

*

Marie Obermaier hört nicht mehr zu. Ganz allein sitzt sie da, weiß, das alles ist nur ein Theater. Und außer ihr gibt es hier bloß noch das blaue Mädchenkleid. Darunter rührt es sich. Kleine Glieder, rosige Finger …

Ihre Agnes wächst daraus empor, läuft über die Gasse mit nackten Füßchen, springt zum Fenster herein, steht vor dem Spiegel, lacht sich zu in das eigene helle Gesicht …

»Mutter«, ruft sie, »heut’ geh’ ich tanzen!«

*

»Ja, was wollen Sie denn?«, schreit aufgeregt im Geschworenenzimmer die Obermaier der anderen Geschworenen ins Gesicht. »Haben Sie denn einen Sohn, der Anton heißt und schwarze Haare hat?«

Sie ist gar nicht mehr die biedere Bürgersfrau, keift wie ein Marktweib. Ihr Unterkiefer schiebt sich vor.

»Immer nur ihn habt ihr angeschaut; habt ihr denn nicht das Mädel gesehen und das Kleid, das Kleid, so ein liebes Kleid?«

Der Obmann sucht sie zu beruhigen.

»Dumm seid ihr, gottsjämmerlich dumm, und schlecht noch dazu! Es ist euch ja alles so gleichgültig!«

Die andere Geschworene ringt die Hände.

»Aber ich, ich«, kreischt die Gemüsehändlerin, »ich hab’ sie geboren!«

*

Der Angeklagte wurde mit elf Stimmen gegen eine freigesprochen. Vor dem Gerichtsgebäude soll sich noch eine peinliche Szene abgespielt haben. Ein rasendes Weib, angeblich die Mutter der Ermordeten, forderte die Menge auf, den Freigesprochenen nicht lebend durchzulassen. Nur mit Mühe konnte er den aufgeregten Leuten, die das Urteil eben noch akklamiert hatten, entrissen werden. Wachleute brachten die Unglückliche in das Gerichtsgebäude. Man hat nichts weiter von ihr gehört.


Textnachweis
Aus: Der Tag, 28. Juli 1925, S. 4. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Alice Bailly, L’heure du thé, 1920


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