von Leonie Meyerhof-Hildeck (1858/60–1933)

Es geht jemand hinter mir.
Ich höre ihn deutlich, wie er mit mir Schritt zu halten sucht; er folgt allen meinen Wendungen nach rechts und links, wenn ich einem der wenigen Begegnenden ausweiche. Kaum drei Schritt kann er von mir entfernt sein. Wenn wir an einer Straßenlaterne vorübergehen und mein Schatten plötzlich vorspringt, verschmilzt der seine mit dem meinen, wächst mit ihm, wird mit ihm blasser, wird zugleich mit ihm von dem Scheine der nächsten Laterne aufgesogen. Ich bilde mir ein zu spüren, sobald wir vor der Laterne sind, dass der hinter mir Gehende auf meinen Schatten tritt. Ich weiß, dass es nur Einbildung sein kann; aber das Grauen, das diese Vorstellung in mir weckt, ist mächtiger als meine Logik.
Wenn es ein Bekannter wäre, hätte er mich schon längst vollends eingeholt und angeredet. Aber wer sollte es auch sein in der fremden Stadt, wo ich niemand näher kenne? Und das Gefühl meiner Einsamkeit, der Zusammenhangslosigkeit mit meiner Umgebung hängt sich wie eine traurige Last an mich, verdoppelt den trüben Schauer über diese immer gleiche unsichtbare Nähe hinter mir.
Vielleicht ist es einer, der Abenteuer sucht. Er glaubt wohl, ich sei eine für ihn, und meine Eile sei Schein und Lockung. Ich brauchte mich nur zu wenden, ihn mit einem kalten, gleichgültigen Blicke zu streifen … Warum tue ich es nicht? Ich kann nicht, ich muss vorwärts, als ob dieser Unbekannte mit dem rhythmischen Schritt mich peitschte … Wenn ich langsamer ginge – ihn an mir vorbeigehen ließe –? Doch die Angst, dass auch sein Schritt sich verlangsamen möchte – dass alsdann etwas Gemeinsames, gleichsam Verabredetes uns verbände, zwingt mich zu immer größerer Eile. Schneller als jetzt kann ich nicht – kann – ich – nicht! Ich bin so atemlos. Mir ist elend, mein Herz weint vor Einsamkeit und Grauen.
Und der Schritt ist immer, immer hinter mir. Als ob es nie anders werden könne, so ist es. Als solle es in alle Ewigkeit so bleiben – ich voran, hinter mir dieser Schritt, der dem meinen sekundiert in erbarmungslosem Takt, – vor dem ich bin wie ein Wild vor dem Jäger, sinnlos vor Entsetzen, halb taub vor rasendem Herzklopfen.
Sieht es denn keiner, wie ich leide? Verjagt mir niemand den Verfolger? So allein bin ich, dass es in dieser großen, großen Stadt nicht einen gibt, der mich erlöst von diesem Schicksal!
Ja, wie das Schicksal schreitet es da hinter mir. Das Schicksal – der Tod – das, vor dem es kein Entrinnen gibt … Ein eisiges Erstarren in mir –: wenn es mich nun lähmte, mich widerstandslos vor seine Füße hinwürfe – – – Vorwärts – nein – vorwärts! Und wenn es das Unabwendbare ist – ich bin schneller als das Unabwendbare!
Die Straße wird lebhafter. Wir nähern uns mehr und mehr der Innenstadt. Es ist wie ein Winken naher Erlösung. Ich kann diesen Schritt hinter mir nicht mehr ertragen – diese zudringliche Nähe, die mir den Rücken zu Eis macht, die Muskeln auflöst, als kröchen sie auseinander, jede Faser für sich – –
Plötzlich ändert sich der Schall des Schrittes. Er wird heller, ferner, kürzer – er verliert sich in einer Querstraße. Zuerst ist es ein Schrecken, es ist so unerwartet, so anders, so neu. Mein Herz schlägt auf einmal schneller und leiser. Ich verlangsame meinen Gang und atme tief auf mehrere Male. Ah – Gottlob, denke ich – Gottlob!
Aber ich denke es nur und lausche dabei hinter mich, enttäuscht fast, den Schritt nicht mehr zu hören. Es war doch etwas wie eine Begleitung, etwas, das ich auf mich, auf meine Persönlichkeit bezog – Närrin!
Und nun drängen sich mir Tränen in die Augen. Es war ein Fremder, der seines Weges ging – nicht meines Weges –
Ich bin einsam, so einsam wie nie.
Um mich her klingen und dröhnen die Symphonien des Lebens, dröhnen unaufhaltsam an mir vorbei. Ich bin ein versprengter Ton, der zu keiner von ihnen gehört – summe nebenher, in keiner Harmonie aufgehend, übertönt, verschwimmend, aufgelöst in der unendlichen Leere …
Textnachweis
Aus: Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben. Nr. 26, 1901, S. 414. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)
Titelbild
Detail aus: Zdenka Braunerová, In Paris, 1886.