von Emilia Pardo Bazán (1851–1921)

Ich werde den Schauplatz der folgenden Ereignisse nicht mit peinlichster Sorgfalt und Genauigkeit bezeichnen. Wer sich für novellistische Topographie interessiert, dem genüge es, dass Bouzas ebenso gut in der pittoresken Gegend von Bercia liegen kann wie hinter den Schroffen und Klüften des Barco de Baldeorras zwischen der Sierra de la Eucina und der Sierra del Ege. Jedenfalls gehört Bouzas jenem ursprünglichen schönen Galizien an, das vor zwanzig Jahren noch nicht entdeckt war.
Wer hat dort nicht die Erbtochter gesehen? Wer kennt sie nicht noch als kleines Kind, wie sie an heißen Sommerabenden hoch oben auf dem Maiswagen mit fliegendem Haar in den väterlichen Gutshof einfuhr? Größer geworden, ließ sie sich oft auf einem ungesattelten Klepper sehen, ohne anderes Geschirr als eine Strickhalfter. Sie und ihr Reittier waren wie ein Stück. Um aufzusitzen, hielt sie sich an den Mähnen fest oder stützte die Hand auf den Rücken des Pferdes: ein Sprung, und sie war oben. Mit einem Hasel- oder Tamariskenzweige, den sie sich abgeschnitten hatte, fuchtelte sie dem Gaul um die unruhigen Ohren, und im Galopp ging’s dahin an den steilen Ufern des Sil.
Als die Erbtochter ein fertiges und vollkommenes Weib war, machte ihr Vater die Reise nach dem klassischen Markte von Monterroso, wo sich alle ländlichen Sportsmen versammeln. Da handelte er für sein Mädel eine hochbeinige, lebhafte Stute ein, einen andalusischen Mischling – einen Sprossen des Regierungsgestüts, und um das Geschenk zu vervollständigen, ein reiches Sattelkissen und ein silbernes Geschirr. Und die Erbtochter, die sich mit Kleinigkeiten nicht abgab, brauchte keinen englischen Sattel – von denen man überhaupt in Bouzas nichts weiß – und leitete ohne Stallmeister, der sie unterwiesen, ohne Reitknecht, der sie gestützt hätte, ihr Reittier mit der Geschicklichkeit und Kraft einer mythischen Zentaurin.
Ich fürchte sehr, wenn irgendein ehrenfester Bürger von Madrid unverhofft nach Bouzas gekommen wäre und das große Mädchen allein durch Wald und Feld hätte reiten sehen, er würde mit würdevollem Ernste gesagt haben, dass Don Remigio Padornin de las Bouzas seine einzige Tochter zu einem Mannweibe erziehe. Und ich möchte gern sehen, was für eine Miene eine sächsische Instituts-Vorsteherin zu den Inkonvenienzen der Erbtochter machen würde. Wenn sie Durst hatte, stieg sie ruhig vor einer Schänke an der Heerstraße ab und ließ sich ein Glas Wein reichen. Zu Zeiten machte es ihr Spaß, ihre Kräfte mit den Schäferbuschen und Ackerknechten zu messen, und gar manchem beugte sie das Handgelenk, manchen warf sie zu Boden. Nicht selten half sie den Heuwagen beladen oder sie pflügte mit dem besten Ochsenpaare des väterlichen Stalles. Auf dem dörflichen Tanzboden, bei Ernte- und anderen ländlichen Festen tanzte sie wie ein Kreisel mit ihren eigenen Taglöhnern und Pächtern, indem sie, wie Königinnen tun, den herbeirief, der ihr gefiel. Und es gefielen ihr die hübschesten und behändesten Burschen.
Gleichwohl würde man eher Flecken am Himmel erblickt haben als Schatten an der rauen Tugend der Erbtochter. Ihr galt kein anderer Moralkodex als der Katechismus, den sie in der Kindheit gelernt hatte; er genügte ihr aber, um den Gebrauch ihrer wilden Freiheit zu regeln. Streng katholisch, hörte sie täglich die Messe im Sommer wie im Winter, betete abends den Rosenkranz und gab Almosen, so viel sie konnte. Ihre demokratische Vertraulichkeit den Arbeitern und Knechten gegenüber wurzelte in jenem Instinkt des patriarchalischen Systems, der den Adeligen als Angehörigen einer höheren Rasse betrachtet, und gewiss gestattete es ihr bloß die Überzeugung, dass jene Leute nicht so seien wie sie, mit ihnen so frank und frei zu verkehren, so dass sie sich oft auch an ihren Tisch setzte und, gleichsam als Musterbild der Mäßigkeit, Fleischbrühe und Maisbrot mit ihnen aß.
Dem Vater konnte nichts erwünschter sein als die energische entschlossene Sinnesart dieser Tochter. Er war ein gutmütiger ruheliebender Mann, der das Fideikommiss von Bouzas durch den tragischen Tod seines älteren Bruders übernommen hatte. Dieser war während des ersten Bürgerkrieges das Haupt eines Häufleins Aufständischer gewesen, mit dem er unter dem nom de guerre eines Senorito de Padornin die Gegend durchstreifte, bis ihn eines Tages das Militär abfasst und in den Fluss stürzte, nachdem er drei Bajonettstiche in den Leib erhalten hatte. Don Remigio, der Zweitgeborne, machte es wie die Katze, die sich verbrannt hatte: Er sah kein Zeitungsblatt an, hatte über gar nichts eine Meinung und wollte nicht einmal mit den Wahlen zu tun haben. So verbrachte er ein Leben ohne Kummer und Sorgen und machte seine regelmäßige Kartenpartie mit dem Pfarrer und dem Dorfarzte.
Die Erbtochter mochte nahe an die Zweiundzwanzig sein, als ihr Vater die Wahrnehmung machte, dass sie schlechter aussehe, dunkle Ringe um die Augen habe, seltener auf ihrer Stute ausreite und ohne Ursache vor sich hinbrüte. – Das Mädel muss heiraten – entschied der Alte in seiner Weisheit. Und sich eines Edelmanns erinnernd, eines gewissen Balboa de Fonsagrada, der einstmals sein guter Freund gewesen und von der Vorsehung mit einer zahlreichen männlichen Nachkommenschaft beglückt worden war, setzte er sich hin und richtete an diesen ein Schreiben, in welchem er eine Familienverbindung vorschlug. Die Antwort lautete, der dritte Balboa, der eben Lizenziat der Rechte in Santiago geworden war, werde nicht zögern, sich auf Bouzas einzustellen; denn der erste dürfe das Haus nicht verlassen und der zweite sei schon vermählt. Und in der Tat, nach Ablauf von drei Wochen – welcher Zeitraum nötig war, um ihm sechs Hemden zum Wechseln machen und ein Dutzend Sacktücher märken zu lassen – traf Camilo Balboa ein, ein hübscher Junge, etwas verfeinert durch das Universitätsleben, aber ein wenig bleich infolge der Wirtshauskost und der studentischen Liederlichkeit. Zwei Stunden, nachdem der junge Herr von Balboa von seinem mageren Pferde abgestiegen war, war die Hochzeit beschlossene Sache.
Vom physischen Standpunkte bildeten die Brautleute einen außerordentlichen Gegensatz, gleich als ob die Natur bei ihrer Bildung die Eigenschaften der Geschlechter verwechselt hätte: die Erbtochter kräftig, breitbrüstig, hochgewachsen, mit Wangen wie ein Apfel um Johanni, mit einem dunklen Flaum auf der Oberlippe, gesunden Zähnen, harten Händen und mit ihren freien und energischen Bewegungen; Balboa zart, blass, blond, mit feinen Gesichtszügen, ein Freund des Plauderns und des Schmeichelns, etwas nervös und allem Anschein nach der Verhätschelung und Bevormundung bedürftig. War es diese Verschiedenheit, welche in dem Busen der Erbtochter eine so heftige Liebe entzündete, dass die Braut zuverlässig schwer erkrankt wäre, wenn sich die Trauung nur ein wenig verzögert hätte? Oder lag es einzig daran, dass die Frucht reif war, dass Camilo Balboa eben zur rechten Zeit kam? Tatsache ist es, dass man in Bouzas, seit die Welt steht, kein so hingebendes Weib gesehen hat.
Das eheliche Leben vermochte nicht, diese Zärtlichkeit abzukühlen; es verhüllte sie nur, indem es sie heiter und ruhig machte. Die Erbtochter hätte um alles in der Welt gern ein Püppchen gehabt, und da das Püppchen nicht kommen wollte, vereinigte sich der doppelte Strom der Liebe in dem Gatten, für ihn also alle Zärtlichkeit und Freundlichkeit, Leckerbissen und Lieblingsspeisen, gute Zigarren und starker Kaffee, die feinsten Liköre und die kostbarste Wäsche. Sie, die imstande war, von einem Teller voll Gemüse zu leben, erbat sich jetzt von den Nonnen Rezepte zu feinen Bäckereien; sie, die auch auf einem Steine geschlafen hätte, kaufte jetzt die zartesten Dunen zusammen und füllte damit die Kissen und Decken des Ehebettes. Und als sie sah, dass Camilo stärker und dicker wurde, dass ihm ein schöner kastanienbrauner Bart wuchs, da lächelte die Erbtochter und dachte bei sich: Zur Zeit der Weinlese, da haben wir unser Püppchen.
Doch die Zeit der Weinlese verstrich, und die Zeit der Aussaat und die Zeit, wo die Äpfel blühen: und das Püppchen stieg nicht zur Erde herab, um deren Unannehmlichkeiten mitzumachen. An seiner statt beschäftigte sich Don Remigio damit, es mit einem besseren Leben zu versuchen, und unterstützt von einer Gedärmverschlingung, welche auch eine Pille größten Kalibers nicht zu entwirren vermochte, ließ er dieses Jammertal und seine Tochter als Herrin von Bouzas hinter sich.
Für die Erbtochter war es keine Überraschung und keine Verlegenheit, sich an der Spitze der Gutsverwaltung und des Hauswesens zu sehen. Seit langer Zeit schon fiel alles ihr anheim; ihr Vater hatte sich um nichts gekümmert, ihr Mann, unpraktisch, wie er war, half ihr nicht viel; dafür besaß sie ein Faktotum, das ihr ergeben war wie ein Hund und pünktlich wie eine Maschine, in ihrem Milchbruder Amaro, der in Bouzas eines jener undefinierbaren Ämter versah, halb Majordomus, halb Aufseher. Obwohl von derselben Milch genährt, glichen sich Amaro und das Fräulein von Bouzas in keinem Punkte. Denn der Bauer war klein, mager und hässlich, und das wirre Haar, das ihm in Büscheln in die Stirne und an den Ohren herabhing, trug nicht dazu bei, sein Aussehen zu verschönern. Trotz der Vertraulichkeiten der Kindheit behandelte Amaro die Erbtochter mit dem tiefsten Respekt, er nannte sie nie anders als »meine gnädigste Herrin«.
Kurz nach Don Remigios Tode begann die revolutionäre Bewegung höhere Wellen zu schlagen, und ihre Wogen wälzten sich auch in das Tal von Bouzas, wo sie sich in eine carlistische Agitation umsetzen. Gleich als ob ihr das Gespenst des mit Bajonetten gespickten Oheims abends in den Dünsten des Sil racheheischend erschienen wäre, fühlte die Erbtochter ihr Parteigängerblut in den Adern rollen, und sie widmete sich mit ganz vendéeischem Eifer dem Verschwörergeschäfte. Wieder konnte man sie auf dem Rücken ihrer schnellen Stute durch Schluchten und Waldwege eilen sehen, auf dem Busen eine leuchtende Nadel, die auf einer Seite das Bildnis des Don Carlos, auf der anderen das Pius’ IX. zeigte. Da gab es Gürtel und Brotsäcke zu nähen, Patrontaschen zu füllen, aus farbigem Flanell Herzen als Abzeichen auszuschneiden, rostzerfressene Flinten zu reinigen, alte Pistolen beim Waffenschmied ausbessern zu lassen, aus der Umgebung Reitpferde zu requirieren, insgeheim eine Fahne zu sticken.
Camilo Balboa wollte sich anfänglich den Schleichwegen seiner Frau nicht anschließen. Er behandelte sie skeptisch, gleichgültig, als kluger Alphonsist und riet ihr eindringlich sich zurückzuziehen, oder er machte über die ganze Sache studentische Witze, wenn er beim schwarzen Kaffee saß, zwischen dem Domino und dem Gläschen Cognac. Über Nacht, ohne Übergang, kam der Enthusiasmus über ihn. Er begann mit der Erbtochter zu wetteifern, verlangte auch sein Teil an der Arbeit, indem er sich erbot, das Tal zu durchstreifen, während sie, von Amaro eskortiert, in den Bergen herumklettere. So geschah es auch, und Camilo nahm sich der übernommenen Aufgabe mit solchem Eifer an, dass er ganze Tage vom Hause wegblieb. Nur am Morgen kam er zu der Erbtochter und verlangte »Geld für Pulver … für einige Flinten, die er da und dort entdeckt habe«. Er kehrte mit leerer Börse zurück, versichernd, die Waffen seien wohlgeborgen, ganz bereit für die feierliche Stunde.
Eines Nachmittags, nach einem leckeren Mahle – so beschäftigt auch die Erbtochter sein mochte, nie vergaß sie deshalb den Magen ihres Gatten; das hätte noch gefehlt! – zog Camilo seinen Samtrock an, ließ sein Pferd satteln und empfahl sich mit den hingeworfenen Worten:
»Ich gehe zu den Resendes. … Wenn wir nicht fertig werden, bleibe ich vielleicht über Nacht dort. … Nur keine Angst, wenn ich nicht heimkehre. … Von hier zum Kastell von Resende ist’s auch ein gut Stück Weges.«
Das Kastell von Resende, ein adeliges Jagdschloss, war in eine Art von Arsenal oder Werkstätte verwandelt worden. Man fabrizierte Munition, richtete alte Feuerwaffen her und maskierte sogar Pferdedecken als Reitsättel. Die Erbtochter würdigte vollkommen die Wichtigkeit der Expedition; gleichwohl flog ein Schatten über ihre Augen; war es doch das erste Mal seit der Hochzeit, dass Camilo erst am anderen Tage zurückkehren sollte. Sie vergewisserte sich, dass ihr Mann gut geschützt fortgehe – er trug Pistolen im Sattel und einen Revolver im Gürtel »für alle Fälle« – und begleitete ihn bis zum Torwege. Dann rief sie Amaro und befahl ihm, die Pferde vorzuführen. Sie hatte noch mit dem Pfarrer von Buron zu sprechen, einem der Organisatoren des künftigen königlichen Heeres.
Ohne der Peitsche zu bedürfen, schlug die Stute der Erbtochter ihren lebhaften Trab ein, während Amaros Klepper in ungleichen, holprigen Sprüngen wütend nebenher galoppierte. Herrin und Diener schwiegen; er noch stiller und verschlossener, als es sonst schon seine Art war; sie, ein wenig melancholisch, an den abwesenden Gatten denkend. Sie ritten einen Pfad, der, anfangs steinig und stellenweise durch den angeschwollenen Sil überschwemmt, dann geradeaus auf das Pfarrhaus von Buron hinführt, als Amaros Gaul plötzlich die Ohren spitzte und einen Seitensprung machte, dass er samt seinem Reiter beinahe in den Fluss gestürzt wäre. Die Erbtochter sah über einer Weidengruppe die Dreispitze der Guardia Civil auftauchen.
Die Begegnung hatte durchaus nichts Beunruhigendes, denn alle Gardisten der Umgebung waren dem Hause Bouzas wohlgesinnt, wo stets für sie der Mostkrug bereitstand, im Notfalle ein reines Bett und allemal freundliche
Aufnahme und gute Behandlung. So kam es, dass der Sergeant, welcher die Abteilung befehligte, beim Anblicke der Erbtochter den Hut respektvoll lüftete und einen guten Abend bot. Sie aber, einer plötzlichen Eingebung folgend, führte ihn abseits zu einer Krümmung des Pfades und fragte ihn leise, doch in gebieterischem Tone:
»Wohin geht Ihr, Pineiro?«
»Verraten Sie mich nicht, Señorita, beim Heile Ihres Vaters, der im Himmel sein möge. … Nach Resende, Señorita, nach Resende. … Es heißt, dass dort eine Waffenfabrik ist, und Leute sind versteckt, und der Teufel und seine Großmutter. … Ja, ja, Señorita, manchmal muss der Mensch auch gegen seinen Willen. … Man muss leben, und wenn man kein anderes Mittel hat. … Die Jungfrau gebe, dass nichts daran ist …«
»Es wird nichts daran sein, Pineiro. … Nichts als Erfindung. … Geht jetzt, und Gott lohn’ es Euch…«
»Señorita, noch einmal, verra…«
»Keine Seele wird es erfahren. Adieu, grüßt mir Eure Frau!«
Man sah noch das Wachstuch der Mäntel durch die Weiden schimmern, als die Erbtochter Amaro anrief.
»Gnädigste Herrin?«
»Du reitest, so schnell du kannst … gib acht, dass dich die Gardisten nicht sehen … nach Resende und sagst dem jungen Herrn, dass die Garde hinkommt, um das Kastell zu durchsuchen. Sie sollen die Waffen vergraben, das Pulver und die Patronen verstecken. … Mein Mann soll den kürzeren Weg über Illosa einschlagen und gleich nach Hause kommen. … Nun, du stehst noch da?«
Unbeweglich, mit einer tiefen Falte zwischen den Augenbrauen, den Blick zur Erde gesenkt, stand Amaro da, als wäre er zu Stein geworden.
»Nun! … Sprich! Was ist dir über die Leber gelaufen? … Wird’s bald, oder soll ich selbst nach Resende gehen?«
Amaro hob die Augen nicht empor, sondern fuhr sich nur mit der Hand in sein wirres Haupthaar. Endlich öffnete er die Lippen zu einem tiefen Seufzer und brachte mit heiserer Stimme mühsam die Worte hervor:
»Wenn es ist, um die Herren von Resende zu benachrichtigen, denk’ ich, so will ich gleich gehen. … Wenn es wegen dem gnädigen Herrn ist, denk’ ich, es wäre umsonst. … Der junge Herr ist nicht in Resende.«
»Mein Mann ist nicht in Resende?«
»Nein, gnädigste Herrin, mit Ihrer Erlaubnis; in Resende nicht.«
»Wo denn sonst?«
»Wo er ist? … Er wird dort sein, wo er jeden lieben Tag hingeht.«
Die Erbtochter schwankte im Sattel und ließ die Zügel der Stute locker, so dass diese überrascht schnaubte und sich zum Laufen anschickte.
»Wohin geht er jeden Tag?«
»Alle Tage.«
»Aber wohin, wohin? … Heraus mit der Farbe, oder es geht dir schlecht!«
»Gnädigste Herrin!« – Amaro überstürzte sich im Sprechen, sprudelnd und glucksend wie das Wasser aus einer abwärts gekehrten Flasche. – »Gnädigste Herrin, der gnädige Herr … in Carballos … das heißt … da ist eine hübsche Näherin, welche im Resende-Kastell arbeitete … jetzt geht sie nicht mehr hin. – Der Herr gibt ihr Geld … sie leben zusammen, sie und ihre leibliche Tante … manchmal geht sie mit dem gnädigen Herrn auf die Berge … auf dem Jahrmarkt von Illosa hat ihr der gnädige Herr Ohrringe von Gold gekauft … sie ist eine kecke Person … sie nennen sie Wunderblume, denn heut’ ist sie zum Sterben, morgen ist sie frisch und gesund, singt und tanzt. … Sie ist verrückt, denk’ ich.«
Die Erbtochter hörte, ohne mit den Wimpern zu zucken. Die Blässe verlieh ihrer dunklen Haut die Färbung des Lehms. Maschinenmäßig nahm sie die Zügel auf und streichelte den Hals ihres Pferdes, während sie an der Unterlippe kaute. Nach einer kurzen Pause sagte sie mit dumpfer Stimme:
»Amaro, du lügst nicht?«
»Gnädigste Herrin, so wahr wir alle sterben müssen … Möge mich ein Blitzstrahl treffen, wenn ich nicht die Wahrheit sage.«
»Gut – jetzt schweige! Der Herr sagte, dass er diese Nacht in Resende schlafen werde. Er wird aber dort über Nacht bleiben bei – dieser?«
Amaro nickte, einen scheuen Seitenblick auf seine Herrin werfend. Diese dachte einige Augenblicke nach. Ihre entschlossene Natur kannte kein langes Schwanken.
»Hörst du, du gehst jetzt nach Resende, so schnell als möglich. Sie müssen Zeit haben, die Waffen zu verbergen. Vom Herrn erwähnst du nichts. Auf dem Rückwege triffst du mich eine Stunde vor Tagesanbruch in dem Wäldchen bei Corballos, bei der Raposo-Quelle. Jetzt geh.«
Amaro pfiff seinem Pferde, zog sein Messer, mit dem er sich Reitgerten abzuschneiden pflegte, aus der Tasche, und den Gaul sanft damit stachelnd, sauste er im Galopp davon. Lange vor den Gardisten traf er in Resende ein, und Sergeant Pineiro hatte das Vergnügen, in dem Kastell keine anderen Waffen zu finden als den Bratspieß in der Küche und die Jagdflinten der Herren in einem Saalwinkel. Noch hörte man in den Gebüschen kein Flüstern des Laubes, kein Piepsen der Vögel, wie es die Annäherung des Morgens ankündigt, als Amaro mit seiner Herrin zusammentraf. Sie verbargen sich hinter einer Gruppe von Eichen, an deren Stämmen sie ihre Pferde ankoppelten.
Schweigsam harrten sie das etwa anderthalb Stunden. Das bleiche Licht der Morgendämmerung breitete sich langsam über die Landschaft aus, schon begann die Sonne den Nebelschleier zu durchbrechen, der über dem Flusse lag, als zwei menschliche Gestalten in geringer Entfernung von dem Eichenwäldchen sichtbar wurden: ein zierlicher junger Mann und ein schlankes Mädchen, frisch und lächelnd, aber nicht ganz ausgeschlafen. Das Pärchen nahm zärtlichen Abschied. Der Mann bestieg das Pferd, welches er an der Rechten führte, und eilte in scharfem Trabe weg wie einer, der Eile hat. Das Mädchen folgte ihm eine Weile mit den Augen, dann dehnte und streckte es sich und band ein blaues Tuch um den Kopf, denn sie war barhaupt mit zwei langen, herabhängenden Zöpfen. Bei diesen Zöpfen packte sie Amaro, indem er ihr mit ihrem eigenen Tuche den Mund verstopfte und ihr mit drohender Stimme zurief:
»Wenn du muckest, bring ich dich um!«
Sie stiegen eine Weile bergauf, die Erbtochter voran, Amaro, der das Gekreisch der Dirne erstickte und ihr die Arme festband, hintendrein. In Wahrheit leistete die kleine Näherin zwar wütenden, doch nur schwachen Widerstand; ihr zartes Körperchen machte Amaro wenig zu schaffen. Er begnügte sich, ihr die Kinnladen zu pressen, damit sie nicht beiße, und die Hände, damit sie nicht kratze.
Sie mochten so etwas wie eine Viertelmeile gegangen sein und befanden sich auf einer öden Lichtung, begrenzt von schwarzen Felsen, zu deren Füßen der stumme Sil dahinrollte. Da hielt die Erbtochter an, wendete sich um und betrachtete einen Augenblick ihre Nebenbuhlerin. Die Näherin besaß eines jener zarten Gesichtchen, welche die Bauern Gnadenbilder nennen, die von Wachs geformt zu sein scheinen; im Augenblicke glich sie einem solchen noch mehr infolge ihrer tödlichen Blässe. Gleichwohl belebten sich, als der Blick der beleidigten Gattin auf sie fiel, ihre Züge, und ihre Pupillen entluden einen Strahl triumphierenden Hasses, als wollten sie sagen: Du kannst mich töten; aber vor einer halben Stunde ruhte dein Gatte in meinen Armen. – Mit diesem Aufleuchten traf ein Aufblitzen von Gold zusammen, ein Glanz, den die aufgehende Sonne von den kleinen Ohren her zurückwarf: Es waren die Ohrgehänge, das Geschenk Camilo Balboas. Die Erbtochter fragte mit rauer und dumpfer Stimme:
»War es mein Mann, der dir diese Ohrringe gegeben hat?«
»Ja«, antworteten die funkelnden Vipernaugen.
»Nun ich, ich schneide dir die Ohren ab«, entschied die Erbtochter, ihre Hand ausstreckend.
Und Amaro, der weder taub noch lahm war, zog sein Taschenmesser hervor, öffnete es mit den Zähnen und zückte es. … Ein Schrei des Entsetzens und der Todesangst … und noch einer …
»Soll ich sie in den Sil werfen?«, fragte der Milchbruder, das ohnmächtige, blutbedeckte Opfer hoch emporhebend.
»Nein, lass sie hier. … Eilen wir jetzt zu unseren Pferden.«
Und sie stiegen den Berg hinab, ohne den Blick zurückzuwenden.
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Von der hübschen Näherin weiß man, dass sie sich niemals öffentlich zeigte, ohne ein stark ins Gesicht gezogenes Kopftuch; von Camilo Balboa, dass er seiner Frau keine Streiche mehr spielte, oder wenn er es tat, sie geschickt zu verheimlichen wusste; und von jener Verschwörung, die in Resende geplant wurde, dass ihre Taten der Geschichte nicht überliefert worden sind.
Textnachweis
Aus: Die Presse, 3. Januar 1894, S. 1–4. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)
Übersetzung
Aus dem Spanischen; Übersetzer*in unbekannt.
Titelbild
Detail aus: Rosa Bonheur, Weißes Pferd, 1866