In der Konditorei

Skizze von Else Krafft (1877–1947)

Gleich am Eingang, hinter den breiten, blitzenden Glasscheiben, zwei grienende Studenten. Sie musterten die Vorübergehenden der belebten Straße und machten ihre Glossen darüber. Die halbgeleerten Kaffeetassen dampften nicht mehr, und die sechs Stück Zucker lagen unberührt auf dem Metallschälchen.

»Blödsinniges Weib«, meinte der eine, indem er der schon etwas reifen Dame zusieht, die hinter dem Glase gravitätisch wie ein Pfau in ihrem überputzten Seidenkleide vorüberrauscht. Als sie die jungen, lachenden Gesichter sieht, stockt einen Augenblick ihr Fuß.

»Um Gottes willen, Mensch, die kommt noch rein, wenn du solche Zicken machst«, warnt der ältere den jüngeren Studiengenossen. »Wir wollen doch hier keine Antiquitätenhandlung anlegen.«

Und sein Blick streift herausfordernd das Nebentischchen, an dem ein bejahrtes Fräulein ihre Schokolade löffelt.

Sie achtet gar nicht auf die kecke Jugend. Sie sieht alle Minuten auf die große Uhr über dem Küchenbüfett und denkt nur eins: »Wirst du die Stellung bekommen oder nicht?«

Sie ist vorhin zu früh gekommen, als sie sich in dem großen Bureau der Friedrichstadt gemeldet hat. Der Chef empfing noch nicht. »Um sechs wiederkommen«, hieß es. Bis dahin war es noch eine gute Stunde. Zuerst hatte sie vor der Haustür unten auf und ab gehen wollen die ganze Zeit. Dann, als der kalte Wind ihr wieder und wieder das Haar zausend auseinanderriss, ihr das Kleid emporblähte, dass die vorübergehenden Herren nach ihren Füßen sahen und sie ansprachen, flüchtete sie in die Konditorei. Das Geld für die Tasse Schokolade freilich tat ihr leid, es war entschieden ein Leichtsinn für eine stellenlose Buchhalterin, drei von den teuren Spargroschen so hinauszuwerfen. Aber hier zitterte sie doch wenigstens nicht mehr so in Angst und Erwartung, in Sturm und Herbstnebel, hier unter den geschliffenen Spiegeln, den roten Samtstühlen und der goldenen Pracht an der Wand lag es wie ein einziges zuversichtliches Hoffen in der Luft.

Der alte Herr über seiner Zeitung, der ganz in der Nähe des einsamen Mädchens saß, hatte den Wandel in dem müden Frauengesicht beobachtet.

»Was doch so eine Tasse Schokolade ausmacht«, dachte er. »Sieht distinguiert aus in dem schwarzen Kleid. Gewiss eine Offizierstochter, die das Heiraten aufgegeben hat und ihr Taschengeld vom gestrengen Papa für süße Erinnerungsstündchen in der Konditorei anlegt.«

Und er vertiefte sich von Neuem in die Börsenberichte, mit Wonne einen Aufschwung seiner Aktien feststellend.

In einer Nische saß eine junge Frau mit ihrem kleinen, vielleicht dreijährigen Mädchen, das sich den Kuchen selber aussuchen durfte.

»Aba mit Schlacksahne«, befahl das kleine Fräulein, »ein ganz großes Stück, … Schukelade auch, und denn noch viel Tortens!«

Mama nickte und zupfte an der rosenroten Bandschleife der lebendigen Puppe. Heute kriegte Mausi alles. Heute kam Papa zurück. Acht Wochen war er auf einer Geschäftsreise fortgewesen, acht lange, einsame Wochen. Heute mit dem Siebenuhr-Zug kehrte er heim. Sie hatte es aber schon am Nachmittage nicht mehr ausgehalten in der stillen Wohnung. »Bahnhof Friedrichstraße« hatte auf der Depesche gestanden. Die beiden Worte waren wie ein Strom von Glut und Glück über die junge Frau hergefallen. Sie hörte nicht den Herbststurm draußen, sah nicht den Nebel, der nass und schwer über Berlin lag. Ihr bestes Kleid hatte sie angezogen, hellgrau, mit rosa Seide garniert, und Mausi hatte sogar das weiße Spitzenkleidchen unter dem blauen Mäntelchen an, an dem die Schärpenenden wie Freudenflaggen bis zu den runden Beinchen herniederhingen.

»Papa kommt«, weiter wussten Mutter und Kind nichts. Und nun saßen sie beide wartend nahe dem Bahnhof Friedrichsstraße in der Konditorei, und Mausi aß Mamas unberührte Kuchenportion auch noch mit auf. Ein kleiner Winkel voll großen Glücks!

An einem Tische zankten sich zwei, ein Herr und eine Dame, flüsternd zwar nur, aber sie zankten sich doch. Sie würgte mit emporquellenden Tränen ihr Sahnenbaiser herunter, und er qualmte wie ein Schornstein.

»Das geht dich gar nichts an!«

»Doch! … Ich verbitte mir überhaupt diesen Ton!«

»Du hast dir gar nichts zu verbitten!«

Er fuhr hoch.

»Denkste, ich weiß das nicht ganz genau, dass du den Herrn da drüben kennst? Würde er sonst so frech rüberblicken?«

Sie lachte krampfhaft.

»Einbildung!«

»Du kommst jetzt mit … Kellner zahlen!«

»Fällt mir nicht ein … ich bleibe.«

»Das werden wir ja sehn!«

»Sprich doch nicht so laut!« Sie schluchzte jetzt wirklich. »L…i…eber geh’ – ich schon – mit.«

Als das elegante Paar über den roten Teppichboden dem Ausgang zuschritt, stieß eine junge Frau ihren Mann an.

»Du … sieh mal, Schatz, solch Kleid … das mit den Kimonoärmeln … mein’ ich.«

Er sah.

»Unsinn … so was kannst du gar nicht tragen.«

»Warum nicht?«

»Na, Suse!«

Er lachte zärtlich.

»Meine lüttche Frau und solch Kleid! Nee … da sprächen dich ja die Herren auf der Straße an.«

Sie wurde trotzig.

»Lass sie doch! Ein Zeichen, dass man hübsch aussieht!«

Er trank erschrocken sein Glas Echtes aus.

»Komm, Kind. Der Luxus hier verdirbt dich. Wir gehen nie wieder in ’ne Konditorei!«

Darauf sagte sie nichts. Aber nach einem ganzen Weilchen – der Apfelkuchen war auch mit den letzten Krümeln vertilgt – griff die kleine Frauenhand schmeichelnd unter dem Tisch nach der großen des Mannes.

»Noch ’n Stück … ja, Schatz? Dafür will ich auch kein Kleid … alter Brummbär!«

Der Händedruck wurde stürmisch zurückgegeben.

Zwei, die sich heute zum ersten Male heimlich getroffen hatten, saßen auf einem der Tischchen.

»Sie« ganz in die Ecke gedrückt, hinter einem Kleiderständer.

Er war weniger schüchtern.

»Was befehlen Gnädigste?«

»Eisschokolade«, lispelte sie.

»Ist Ihnen so heiß, gnädiges Fräulein?«

Dunkles Erglühen, hastiges Nicken.

»Wie Ihnen mal wieder die Bluse entzückend steht, Fräulein Elisabeth!«

»Finden Sie?«

Verschämtes Lächeln.

»Natürlich, … kleine, süße Liese …«

»Die ist glücklich«, dachte ein schlankes, braunäugiges Mädel, die neben der Mutter saß und das Paar beobachtete. »Die hat Mut! Sich treffen mit dem Liebsten, heimlich, plaudern mit ihm können, Stuhl an Stuhl, Kopf an Kopf, jung, selig sein, ohne Gedanken an Gegenwart und Zukunft … ach, wer das doch auch könnte! Nicht immer nur mit Mama durch Berlin ziehn, durch die Warenhäuser, durch die Ausverkäufe, und dann zur Belohnung ein Stück Kuchen für 15 Pfennig in der Konditorei essen. Torte mit Sahne war der Mutter zu teuer oder gar Eisschokolade …«

»Sitz grade, Erna! Sieh doch nicht so auffallend an den Tisch da drüben, Gott, Mädel … wann endlich lernst du mal Manieren! Was hast du denn … was machst du denn für ein Gesicht? Ist das der Dank für den teuren Kleiderstoff, den ich dir heute gekauft habe? Drei Mark das Meter … Vater darf das gar nicht wissen. Wie ich so alt war wie du, habe ich überhaupt noch kein Tuchkleid bekommen. Halbwolle … allenfalls einen praktischen Cheviot für sonntags. Aber heutzutage … ich sage ja … wer hat’s denn so gut wie du?«

Dazwischen kauderwelschten ein paar Russen bei ihrem Glas Tee, die gleich neben Mutter und Tochter saßen. Sie hatten Bücher vor sich auf dem Tisch liegen und gestikulierten so lebhaft mit den Händen, dass die Löffel klirrten.

Und drüben, ganz weit vom Eingang entfernt, im äußersten Winkel des Raumes saß ein altes Ehepaar, das sich gegenseitig anlachte.

Er hatte zuerst allein seinen Kaffee in der Ecke getrunken. Dann war seine Frau gekommen, die Besorgungen gemacht hatte.

Er hielt die Taschenuhr in der Hand.

»Zum ersten Male unpünktlich … Alte!«

Sie war ganz heiß und rot.

»Ach Gott … es gab so viel zu besorgen, Alterchen.«

»Was denn?«, fragte er.

Da lächelte sie.

»Donnerwetter«, dachte der Grauhaarige, »dein Weib wird wieder jung. Guckt einen an wie ’ne Siebzehnjährige!«

Sie suchte unter ihren Paketen und schob ihm das kleinste direkt vor seine Kaffeetasse.

»Wohl wieder ’n neuer Schlips für deinen eitlen Mann?«

Umständlich wickelte er es aus. Mittendrin stockten seine Finger. Ein feines Klingen, wie von winzigen Glöcklein, kam aus dem Papier.

»Da…as … da soll doch … Du hast wohl ’ne Höllenmaschine drin?«

Sie schüttelte den Kopf. Unter dem weißen Scheitel lachten die Augen wie Sonne im Schnee.

»Wickle man weiter … Großpapa!«

»Großpapa«, hatte sie gesagt. Er war förmlich erschrocken vor diesem neuen Wort. Er wickelte, und da lag’s vor ihm, blinkend, mit Elfenbeingriff und funkelnagelneu: eine Babyklapper.

»Will ich der Lotte schicken, sie … sie hat mir heut geschrieben, dass im Frühling« … Die alte Frau stockte.

Er half ihr schon.

»Dass sie so’n Dings braucht?«

Sie nickte.

»Kling…lingelinge…ling« … Es war das reine Freudenkonzert, was da für einen Augenblick unter den Fingern des alten Herrn begann.

Alle blickten auf, und keiner wusste, wo’s herkam. Aber alle lächelten.


Textnachweis
Aus: Czernowitzer Tagblatt, Nr. 1497, 16. Januar 1908, S. 1–2. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Marianne von Werefkin, Verlassen, 1907

Die Kartenlegerin

Skizze von Else Krafft (1877–1947)

»Frau Meta Bümke« stand auf der weißen Karte vor der Korridortür. Weiter nichts. Aber man fand den Weg doch zu ihr und ihrer Weisheit. Wer kannte in Berlin Meta Bümke nicht? Seit 30 Jahren wohnte sie in derselben Straße, in demselben Haus und legte Karten.

In der Stube wohnte Fräulein Schwalbe. Sie zwitscherte auch so, wenn sie abends aus dem Geschäft kam. Und seit das Fräulein Schwalbe den neuen Kavalier hatte, zahlte sie auch besser und hatte sehr schätzenswerte gute Bissen für ihre Wirtin über.

Am heutigen Sonnabend war sie ganz besonders früh von der Arbeit heimgekehrt. Plauderte, lachte, putzte sich und kräuselte die Haare am offenen Herdfeuer in der Küche.

»Er muss mir neue Schuhe schenken …, Jymmis … und Seife und grüne Florstrümpfe zu meiner neuen Kluft … Ja … und wenn ich erst raus hab’, wo er wohnt und seine feine Stellung hat, dann … herrje … Sie könnten mir ja rasch mal Ihre geliebten Karten schlagen, Frau Sibylle, ob er mich liebt oder ob er gar ein Graf ist oder ein Minister … vor achte kann er nicht hier sein, … haben noch über ’ne Stunde Zeit zum Orakeln.«

Aber die Alte schüttelte den Kopf. Blickte mürrisch in das kecke, junge Gesicht und streichelte Putzepatze, der auf ihrer Schulter herumturnte.

»Nö … wo Sie allemal lachen, selbst bei Unglück übern Weg und die Sterbekarte …, nö, Fräulein, meine Karten sind für ernsthafte Leute …«

»Als wie mein Graf … was? Au ja … dem müssen Sie legen, der glaubt dran … sicher …«

Und lachend wirbelte sie aus der Küche, weil es an der Korridortür geklopft hatte und man noch halb angezogen war.

Frau Bümke schlurfte in den schmalen Gang, öffnete und ließ eine junge Frau mit einem Kinde an der Hand eintreten.

»Guten Abend«, sagte die sehr scheu, hastig und leise. »Ich möchte, wollte … Sie … Sie legen doch Karten … nicht?«

Der graue Kopf nickte, der Kater verschwand mit einem Sprung hinter dem Kohlenkasten und starrte von dort in das blasse, fröstelnde Kindergesicht.

»Nicht weinen … Trudchen … er tut dir nichts«, ermahnte die junge Frau, und doch war es beinahe so, als fürchtete sie sich selber …

Aber da lagen die Karten schon auf dem Tisch.

»Dreimal abheben … drüben sechs … hier fünfe … und nun rundum noch sieben«, gebot Frau Bümke, indem ihr tiefliegender Blick das verhärmte Gesicht unter dem Blondhaar streifte. Sie hob die ersten Karten um, wechselte sie aus und schüttelte den Kopf.

»Viel Tränen übern Weg, viel Steine auf der Straße und ein großer Schreck für den hellen Tag. Aber die Nacht, … aus der Nacht kommt ein Stern, eine junge Frau, kommt ein Glück.«

Sie stockte vor dem schluchzenden Laut über sich.

»Wenn das wäre … ach, wenn das noch einmal sein könnte, … mein Mann, sehen Sie, mein Mann war doch nie schlecht, nein … und … und er muss doch an die Kinder denken, nicht wahr, und ich hab’ noch nie, nein, noch nie mir aus den Karten legen lassen: Aber da doch morgen unser zehnter Hochzeitstag ist, hielt ich es nicht mehr aus vor Angst, und … und …«

Sie schwieg erschrocken und griff nach der Kinderhand neben sich … »aber was erzähle ich da … sagen Sie doch noch mehr aus den Karten … ob … ob er mir treu ist, … ob er wieder, … wieder anders wird … können Sie mir das nicht sagen?«

Die Alte nickte, schlug die Karten um und lächelte beruhigend.

»I gewiss doch … da liegt er ja, der Herzkönig, direktemang neben Ihnen … Die schwarze Dame hat keine Gefahr mehr, nö … den großen Schreck deckt die Glücksneune … sehn Se … und über die Tränen kommt das rote Ass, die brennende Liebe. Und nu noch mal mischen … viere links … dreie rüber und zweie über Kreuz …«

Aber die junge Frau war schon befriedigt. Ihre Finger zuckten beim Mischen, waren nervös, hart, zeigten tiefe Arbeitsrunen …

»Es … es genügt wohl schon … danke, ich habe … habe auch nicht so viel Geld, wenn Sie noch mehr sagen. Auch sind die beiden Großen noch im Dunkeln auf der Straße, man hat nie Zeit! Wäre zwanzig Mark nicht zu wenig … es ist nicht viel heute, ich weiß …«

Sie stotterte furchtbar, war rosenrot und hielt das vergriffene Geldtäschchen verlegen und offen in den Händen. Aus den wenigen Scheinen war ein Bild herausgeglitten, nach dem die Kartenlegerin behütend griff.

Beinahe wäre es wieder hingefallen, so ungeschickt war heute die alte Frau Meta Bümke.

Die junge Frau griff hastig zu.

»Mein Mann«, sagte sie erklärend, ein kleines schmerzhaftes Zucken in der Stimme.

Die braunen, gefurchten Hände der Kartenlegerin nahmen den Zwanzigmarkschein, knifften ihn ein paarmal unschlüssig zusammen und steckten ihn dann in die blaue Küchenschürze. Dann humpelte sie zum Spind, kramte ein Weilchen und brachte einen verschrumpften Apfel zum Vorschein, der aber noch rot und rund wie ein Ball war. Sie drückte ihn in das dürre Kinderhändchen, der Kater sprang auf ihre Schulter und buckelte, und die junge Frau sagte sehr eilig und aufgeregt »Guten Abend«, nachdem die Kleine ihr Dankknickslein gemacht.

Frau Meta Bümke aber ließ ihre Karten ausgebreitet auf dem Tisch liegen, setzte sich auf den Stuhl davor und drückte das Kinn in Putzepatzes Fell.

Da hielt der kleine Kamerad still. Denn nun dachte Frauchen nach, und das kam nicht oft vor. Nur bei ganz besonders wichtigen Angelegenheiten.

Eine Stunde später, als Fräulein Schwalbe mit ihrem Besuch schon sehr üppig zu Abend in der warmen Stube gegessen hatte, hob sich der graue Kopf von den Karten in der Küche. Denn man kam sehr lustig und verliebt hereingewirbelt und schob den ›Grafen‹ vor die Alte.

»Er glaubt … Frau Bümke … er glaubt alle …, also legen Sie mal los! Und morgen wollen wir nach Potsdam fahren, seh’n Sie mal zu, ob gut Wetter wird und wo’s den besten Hasenbraten gibt …«

Die Alte mischte ihre Karten und blickte dabei mit zusammengekniffenen Äuglein in das hübsche Männergesicht. Ihm schien es nicht recht behaglich zu sein, obwohl er lachte und die Karten nach Wunsch zusammenlegte.

»Mach … mach doch keinen Unsinn, Lotte, sei doch endlich mal ernst! … Vorm Kriege hab’ ich mir auch mal Karten legen lassen … da ist alles eingetroffen …«

Aber das Mädel lachte doch. Lachte so lange, bis dieses Lachen mitten durchbrach und der Kater furchtsam den Schwanz einzog. Denn so … nein, so hatte Frauchen lange nicht bei den sonst so harmlosen Karten gesessen. Ganz eingefallen war der Mund und flüsterte nur heiser und unheimlich.

… Eine junge Frau sei da auf dem Weg und drei blasse Kinder, die sich nicht satt essen durften. Blond wäre die Frau, und ihr zehnter Hochzeitstag jährte sich morgen. Und von Ausflug und Feiern stände nichts in den Karten, nur von Not ums Brot und Tränen über den dunklen Weg eines gewissen Mannes. Und das große Glück wäre weit auf diesem dunklen Wege, und die Schwalbe, die darüber fliegt, sei ein leichtsinniger Vogel, dessen Tralala wie Spreu verfliegt, gerade gut für Luftikusse und Windhunde …

Nein … das Mädel lachte nicht mehr. Und der Mann starrte … starrte auf die Karten, auf den zahnlosen Mund und den Herzkönig, dem das Glück so ferne lag, und fühlte die Röte der Scham auf Stirn und auf Wangen.

Die Alte aber sprach weiter, grausam lange und ausführlich, eine Karte nach der andern deckte sie auf, hart und unerbittlich … Eine Hexe war sie … und die Luft in der engen, fremden, heißen Küche war zum Ersticken. Das junge Gesicht aber, das einem noch vor kurzem so begehrlich schien, wurde jäh zur Fratze …

War wirklich morgen sein zehnter Hochzeitstag? Er musste erst nachdenken …

Ein blonder Kopf tauchte auf, Myrtengrün und Weiß … Blütenweiß …

Wie taumelnd schritt er vorwärts, es hielt ihn niemand zurück. Mantel und Hut lagen noch über dem Sessel neben dem Tisch, auf dem die halb geleerte Kognakflasche stand, die Überreste der Herrlichkeiten, die er selber eingekauft, während die Kinder zu Haus …

Er stürzte aus der Tür, die Treppe hinunter, und es war nur gut, dass gerade jemand von außen aufschloss, so dass er gleich auf die Straße konnte.

Die Karten … die Karten jagten hinter ihm her … heim, zurück zu Frau und Kindern, niemals mehr konnte er diesen Abend vergessen …

Frau Bümke aber legte ihr buntes Spiel befriedigt zusammen, schob die jammernde Schwalbe aus der Küche und streichelte zärtlich den schnurrenden Kater.

»Komm, Putzepatze, wir wollen schlafen gehn. Er hat zwar nichts bezahlt, aber … ich denke … wir sind doch dabei auf unsere Kosten gekommen …«

»Mi … au …«, nickte Putzepatze.


Textnachweis
Aus: Freie Stimmen, 11. November 1923, Sonntagsbeilage, S. 1–2. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Rozanova, Vier Asse, 1915

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