Frau Treue

von Elsa Asenijeff (1867–1941)

Hui! wie der Sturm saust! Wie der Wind heult! Wie er winselnd über die Dächer kriecht. Frau Treue ist im Bangen.

Tiktik tik, nur die Uhr geht wie sonst!

Geht sie? (Die junge Frau blickt auf das Zifferblatt.)

Ja, sie geht, aber anders als sonst.

Wenn er bei ihr ist, dann zeigt die Uhr jede Stunde in Sekundenschnelle, doch heute schiebt sich der träge Zeiger jede Ewigkeit nur eine Minute weiter.

Schicksalsuhr!

O der bangen Zeit! Es liegt ein böses Fieber in der Luft, das schlägt in ihre Knochen ein.

Wie es durch die Seele kriecht, das Dunkle, dieser Schatten –

Dummheit!

Jetzt wird sie nachdenken: Er kommt ja erst um acht Uhr. Zuerst muss er über den Berg, durch finstern Wald, über den brausenden Fluss und dann zu ihr, ins Nest.

Um acht Uhr ist er da – aber es ist zehn, zwölf, eins – sie blickt in die Nacht hinaus.

Was lesen ihre Augen im Dunkel?

Blitze zerreißen des Himmels Leib, so dass er zitternd dröhnt, Feuergarben stürzen vom Firmamente zur Erde, doch starr wie Stein steht Frau Treue an der Pforte in tiefer Nacht.

Wenn das All zusammenstürzte, so erzitterte sie nicht!

Aber dieses bebende Weh da drinnen in der Seele! Zuerst lief sie von der Uhr zur Tür, von der Pforte zur Uhr. Aber jetzt steht sie still wie die Gewissheit.

Und der Regen gießt kalte Ströme auf ihren angstdurchfluteten Leib. Ihre Seele starrt ins Dunkel.

»Ja dunkel ist fortan ihr Leben, ihr Licht ist ausgelöscht!«

Was sagt sie? Ist sie denn wahnsinnig? So Schauerliches hat ihr Herz nicht einmal gedacht, dennoch hat es ihre Seele ausgesprochen.

»Dennoch ist’s wahr!«

Was? Sie packt sich beim Kopfe. Ist sie denn heute von Sinnen? Wer spricht ihr ins Gemüt, was sie selber nicht denken will.

Wehe! Frau Treue! was wartest du noch in tiefer Nacht!

– Vom Walde hinab über den Wildbach ein schwanker Steg – ein Tritt – wie die Wellen rauschen – klang nicht ein banger Schrei? –

Wehe! Winselt Wehewind, grausam ist der einsame Tod.

Frau Treue, willst du warten bis zum jüngsten Tag?

Deine Seele schluchzt, warum hörst du sie nicht?

Sie drückt ihr Herz zusammen.

Bange denkt sie: Niemand hat es mir gesagt.

O Frau Treue, wartest du armes, trügendes Menschenwort? Du fühlst es doch – nimmer kehrt er wieder – –


Textnachweis
Aus: Elsa Asenijeff, Sehnsucht, Leipzig 1898, S. 3–5. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Alice Pike Barney, Frau und Pfau, 1900

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