Ibsens Köchin

von Carry Brachvogel (1864–1942)

Schon muss ich fürchten, allzu lange über sie geschwiegen zu haben, denn ein sichtbarer Platz gebührt ihr in einer Zeit, da verschämte wie unverschämte Indiskretionen über große Männer an der Tagesordnung sind. Seit erst gar über Ibsens Grab sich eine ebenso interessante wie feinsinnige Debatte erhob, ob Henrik bei Paul Heyse gute oder schlechte Trinkgelder gezahlt habe, seitdem habe ich die Empfindung, dass ich eine Defraudation an der Unsterblichkeit begehe, wenn ich sie noch länger verleugnete. Sie, die wohl mehr als andere Frauen berechtigt wäre, einen Band zu veröffentlichen »Meine Beziehungen zu Ibsen«.

Staunender Leser und neugierige Leserin, es ist kein Märchen, das ich euch erzählen will. Keine Gestalt der Phantasie oder auch nur Aufschneiderei soll vor euch hintreten, sondern die strenge Frau, die sieben Jahre lang in Ibsens Küche herrschte. Sieben Jahre lang – genau so lang wie der Erzvater um Rahel diente – hat sie für ihn gesotten, gebraten, gedämpft, geröstet, aus schwimmendem Schmalz und auf der Pfanne gebacken, hat die Früchte des Feldes und die Tiere des Waldes zu seinem Opfer bereitet, dass sie ihm wohlschmeckten und ihm nimmer ein miserables Mittagessen die Laune verdarb. O ihr Dichter der alten und insbesondere der neuen Zeit! Wer von euch darf sich rühmen, sieben Jahre lang eine so übermenschliche Weibesliebe empfangen zu haben?

In München war es, wo Mina zuerst dem Dichter nahe trat und jene bedeutungsvollen Beziehungen anknüpfte, die sie sieben Jahre lang mit ihm und seinem Hause verbinden sollten. Als ich sie kennenlernte, waren jene Beziehungen bereits gelöst, und es wäre mir nun ein Leichtes zu renommieren, dass ich Mina direkt aus Ibsens Händen empfing. Da aber meine Aufzeichnungen über sie dem strengsten Wahrheitsgebot entsprechen sollen, muss ich gleich hier feststellen, dass eine engere Verbindung, eine gemeinsame Häuslichkeit zwischen Mina und mir niemals zustande kam oder auch nur projektiert war. Immerhin aber lernte ich sie genügend kennen, um jenen Teil ihres dramatischen Schicksals darzulegen, der am deutlichsten Ibsensche Einflüsse verrät, der am zwingendsten erweist, wie diesem schlichten Mädchen aus dem Volke des Dichters Gebote und Träume in Fleisch und Blut übergegangen waren.

Als ich Mina kennenlernte, hatte sie bereits das Ideal aller Dienstmädchen erreicht: Sie war Haushälterin bei einem einzelnen Herrn, bei einem jungen Arzt, mit der harmlosen Spezialität der Ohren-, Nasen- und Rachenkrankheiten. Er verkehrte seit Jahren in meinem Hause, und ich wusste daher, dass er dazu prädestiniert schien, von einer Frau, das heißt seiner Frau, gehätschelt, bemuttert und auch ein wenig pantoffelt zu werden. Erstaunlich war, wie schnell Mina in die Psychologie ihres Dienstherrn und Gebieters eindrang; ich bin überzeugt, dass die Lektüre von »Nora« ihr dabei wesentliche Dienste geleistet hat. Der Doktor war für sie bald »das Eichkätzchen«, das immer munter, liebenswürdig und arglos zu sein hatte, indes Mina mit eiserner Rute das Haus, das heißt die Parterrewohnung regierte. Hausmeister, Wäscherin und die Dienstboten sämtlicher Nebenparteien zitterten vor ihr, und wahrscheinlich tat es auch das Doktor-Eichkätzchen, das übrigens in seiner Jugend eine Entschuldigung für seine furchtsame Hingebung fand: Er war nämlich um mindestens zehn Jahre jünger als Mina, die konsequent, wie es in ihrem Charakter lag, an der Schwelle der Vierzig stehenblieb. Wenn ihre eine Hand aber auch gelegentlich mit Skorpionen züchtigte, so kochte dafür die andere tadellos; insbesondere in ihren Rahmstanitzeln hob sie sich weit über den Durchschnitt berufsmäßig oder dilettantisch kochender Münchnerinnen hinaus. Sie sorgte aber nicht nur für das leibliche, sondern auch für das geistige Wohl ihres Eichkätzchens und erzählte ihm zeitweise Küchenintimitäten aus dem Hause Ibsen. Die eine ist mir besonders im Gedächtnisse geblieben, nämlich: Der Dichter liebte es, das Rindfleisch mit englischem Senfpulver dick zu bestreuen, nicht etwa mit angerührtem Senf, sondern mit dem trockenen Pulver … Es wäre mir natürlich eine Kleinigkeit, noch mehr nordische Küchenallotria zu berichten, aber ich möchte erst die Stöße von Entgegnungen, Kommentaren und Berichtigungen abwarten, die der Senfenthüllung folgen werden … An dem geistigen Schaffen des Dichters scheint sie dagegen weniger Anteil genommen zu haben; so sehr ich mich auch besinne, wüsste ich nichts von Mitarbeiterschaft oder Inspiration zu sagen …

Es widerstrebt mir im Allgemeinen, bedeutende Frauen auf ihr Äußeres hin zu kontrollieren, dennoch möchte ich Minas Seelenhülle mit ein paar flüchtigen Worten gedenken. Sie war eine kleine Blondine, deren energisch vorspringender Mund rhetorische Eigenschaften verriet, und die früher, noch zu Ibsens Zeit, Plattfüße gehabt hatte. Ein chirurgischer Kollege und Freund Eichkätzchens befreite sie aber von diesem ästhetischen Übel, so dass auf des jungen Doktors Nacken wenigstens ein normal geformter Frauenfuß stand. Zu Anfang unserer Bekanntschaft war mein Verhältnis zu Mina ein freundschaftliches und ungetrübtes: Wir achteten einander und tauschten Kochrezepte. Später schlich sich leider ein Misston in die Harmonie unserer Seelen und Kasserollen, und Mina warf Hass auf mich. Ein Vanillekipfel, ein einziges kleines Vanillekipfel (Rezept »Vanillekipfel ohne Ei«) war zwischen sie und mich getreten! Mir gelang es nämlich, diese Kipfel, wenn auch nicht besser, so doch schöner herzustellen als Mina, in einem verblüffenden Miniaturformat, während die großzügige Natur der Ibsen-Köchin ausführliche Kipfel, auf denen sogar Weltanschauungen Platz gehabt hätten, bevorzugte. Das medizinische Eichkätzchen, das, gleich vielen Junggesellen, den Ehrgeiz der »besten Küche« hatte, nahm einmal, da alles Zureden zu »Klein-Kipfel« nichts half, eines meiner Liliputkunstwerke als Muster mit und meinte in seiner Manneseinfalt, dass Mina nun künftighin ihre Kipfel »in Schönheit« backen sollte. Selbstverständlich ging es gerade umgekehrt. Mina erklärte mit wahrem Trollenlächeln, dass die Figur der Kipfel mit dem jeweiligen Herd in Zusammenhang stünde, und Eichkätzchen schwieg resigniert, weil es doch nicht Lust hatte, zu »Vanillekipfel ohne Ei« einen neuen Herd setzen zu lassen. Zwischen ihr und mir aber stand Hass seit jenem Tage, und ich glaube, auch Eichkätzchen büßte um des Kipfels willen an Liebe und Achtung ein.

An der »sittlichen Forderung« im buchstäblichen Sinne des Wortes sollte dann das Puppenheim zugrunde gehen, in dem Mina sich so lange an dem Singvögelchen-Doktor erfreut hatte. Für ängstliche Gemüter füge ich gleich bei, dass nichts, absolut nichts passierte, was Minas oder Eichkätzchens Ruf nur im Leisesten hätte trüben können. Das Verhängnis lag einzig und allein in Minas Phantasie, die entschieden bei dem großen Skandinavier in die Schule gegangen war und von ihm gelernt hatte, aus dem Alltag die tiefen und grausigen Lebensprobleme herauszuholen. Wie in einem richtigen Ibsen-Drama fing die Sache mit scheinbarer Harmonie an.

Da war unter unseren Bekannten eine hübsche, mollige, lustige, geistig nicht übermäßig ausstaffierte Witwe, mit der Eichkätzchen und ich eines Tages eine Landpartie machten. Als wir abends müde, aber immer noch in sehr fideler Stimmung heimkamen, lud Eichkätzchen uns ein, à la fortune du pot bei ihm zu nachtmahlen. Ich bestaunte im Innern seinen Mut, denn jede Hausfrau weiß, dass auf die fortune du pot fast allemal le malheur du lendemain folgt, weil Dienstboten einen unüberwindlichen Horror gegen Improvisationen haben. Was aber mit und durch Mina geschah, grenzte ans »Wunderbare«.

Zunächst täuschte sie uns alle freilich durch ein gütiges Lächeln und kulinarische Impromptus, die entschieden Beachtung verdienten. Auch als sich dem vergnügt speisenden Kleeblatt noch ein junger Maler angesellte, deutete nichts auf die drohende Katastrophe hin. Nach dem Essen setzte sich der Maler ans Klavier und spielte Strauß-Walzer. »Die lustige Witwe«, die der Ausflug sehr müde gemacht hatte, legte sich auf die Ottomane und ließ sich vom Doktor eine Reisedecke über die Füße breiten, eine Handlung, die sie schon aus Klugheit hätte vermeiden sollen, denn sie trug kalblederne Tourenstiefel Nr. 43. Lange vor Mitternacht verabschiedeten wir uns vom Doktor, der uns höchsteigenhändig hinausleuchtete, denn Mina durfte stets unmittelbar nach dem Abendessen zu Bette gehen. Vergnügt lachend schritten wir ins Dunkel und ahnten nichts von den noch viel dunkleren Mächten, denen wir den Doktor überlassen hatten.

Was zwischen Eichkätzchen und Mina in jener Nacht sich zutrug, haben wir nie genau erfahren. Doch am anderen Morgen kam der Doktor bleich und erschüttert zu mir.

»Mina hat gekündigt! Sie kann nicht länger ›in so einem Haus‹ bleiben!«

Eine kluge Hausfrau fragt ja nie, was das Dienstmädchen mit »so einem Haus« sagen will. Eichkätzchen aber mit der zweifachen Begier, des Mannes und des Naturwissenschaftlers, hatte törichterweise gefragt. Was Mina da alles vorbracht, ließ sich nur mit den Worten kommentieren: »O welch ein edler Geist ist hier zerstört …« Die Ausschweifungen ihrer Phantasie waren unbeschreiblich und gipfelten schließlich in der wildromantischen Behauptung, dass »die lustige Witwe« gegen Morgen aus dem Fenster in den Vorgarten gesprungen sei … Vergebens versuchte man, ihr klar zu machen, dass selbst unter den pikantesten Voraussetzungen normale Großstadtmenschen sich vorteilhafter durch die Haustür als durch einen Salto mortale entfernen. Es half nichts. Die springende Witwe blieb der springende Punkt ihrer Anklage und Kündigung. Der Doktor entsprach nicht mehr dem »frohen Adelsmenschen«, für den ihn Rebekka-Mina gehalten hatte. Ganz ähnlich wie »Brand« scheint sie in jener rätselvollen Nacht mit der Forderung »alles oder nichts« vor ihn getreten zu sein, und da der Unselige, der eben eine Reisedecke über Kalbslederstiefel Nr. 43 gebreitet hatte, die Reinheit nicht gewähren konnte, die sie forderte, so ging sie, »weil sie jahrelang mit einem fremden Manne unter einem Dache zusammengelebt hatte«. Das heißt, ganz so friedlich und würdig ging sie nicht, sondern sie schimpfte noch zuerst tüchtig bajuwarisch, woraus zu ersehen war, dass der skandinavische Einschlag das Bodenständige in ihr nicht hatte vernichten können.

Das ist die Geschichte von Ibsens Köchin. Allen Biographen, Kommentatoren etc. stelle ich mit Vergnügen weitere Auskünfte zur Verfügung. Auch Minas Adresse kann bei mir erfragt werden sowie die Eichkätzchens, das immer noch jung, unbeweibt und pantoffelbedürftig ist, eine große Praxis besitzt und nun mit einer gänzlich unliterarischen Haushälterin wirtschaftet …


Textnachweis
Aus: Neues Wiener Tagblatt, 7. April 1907, S. 2–4. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Boznańska, Mädchen mit Gemüsekorb im Garten, 1891

Von Himmelfahrt bis Pfingsten

Novellette von Carry Brachvogel (1864–1942)

»Herrlicher Pfingstaufenthalt. Historisch hochinteressantes Städtchen, von Wäldern umgeben, reine, ozonreiche Luft, prächtige Spaziergänge, Fernsicht auf die Gebirgskette, beste Verpflegung bei mäßigen Preisen. Für Pfingsten besonders günstige Zugsverbindung mit allen Knotenpunkten des Reiches. Erholungs- und Ruhebedürftigen besonders zu empfehlen.«

So konnte man kurz vor dem Himmelfahrtstage in vielen großstädtischen Blättern lesen, denn die Gemeindeverwaltung besagten »historisch-hochinteressanten Städtchens« hatte beschlossen, nicht länger hinter der Konkurrenz anderer »herrlicher Pfingstaufenthalte« zurückzustehen, und harrte nun der Gäste, die nach ihrer Ansicht doch in Scharen herbeiströmen mussten. Nur Peter Beringer, der Kirchenmaler, lächelte ironisch in sich hinein, wenn er diese gemeindlichen Pfingstträume vernahm. Er saß in seiner Werkstatt und legte sachverständig schönes, leuchtendes Kobaltblau auf den verblassten Mantel einer holzgeschnitzten Gottesmutter, die, also verschönt, am Pfingstsonntag wiederum in dem Dorfkirchlein prangen sollte, aus dem sie vor kurzem in dies Sanatorium für Heiligenbilder und -figuren, in die Werkstatt Peter Beringers, gekommen war.

Peter zuckte zwar stets ein wenig ärgerlich mit den Brauen, wenn sie im Städtchen sich durchaus nicht daran gewöhnen konnten, seinen Arbeitsraum »Atelier« zu nennen, wie er ihnen unermüdlich vorsagte, aber diese kleine Stadt war für Neuerungen nur schwer zugänglich und seit Jahrzehnten gewohnt, von der »Werkstatt« des Kirchenmalers zu sprechen. Für sie alle, deren Leben ruhig und immer im gleichen Gleis dahinfloss, war es schon Zumutung genug, dass sie sich daran gewöhnen mussten, in besagter Werkstatt nicht mehr den weißbärtigen alten Kirchenmaler zu sehen, der vor etlichen Jahren gestorben war, sondern seinen Nachfolger, den sie freilich auch schon gut kannten, denn Peter war jahrelang die rechte Hand des alten Herrn gewesen, ganz buchstäblich die rechte Hand, denn als der alte Kirchenmaler nicht mehr auf Gerüste steigen, sondern nur noch Heiligengestalten über Haustüren oder in der Werkstatt ausbessern konnte, da war Peter Beringer hilfreich an seine Stelle getreten. So war es ganz selbstverständlich, dass er nach dem Tod des alten Kirchenmalers das Geschäft übernahm, und nicht minder selbstverständlich schien es, dass er die Enkelin des Verstorbenen, die blonde Elsbeth, heiraten würde, die mit ihrer verwitweten Mutter in dem Hause wohnen geblieben war, in dem sich die Werkstatt befand.

Peter hatte grundsätzlich nichts gegen diese Heirat einzuwenden. Elsbeth war jung, tüchtig im Hauswesen und mit jener bescheidenen, aber fest umrissenen Bildung ausgestattet, die in ländlichen Klosterinternaten erworben wird. Sie war noch ein wenig Mädchen alten Stils: saß lieber über einer Handarbeit als auf dem Rodelschlitten, zog ein schönes Buch dem Kino vor, sann nicht über Probleme der Willensfreiheit oder indischer Magie, sondern nahm das Leben dankbar und fröhlich hin.

Peter aber nahm es nicht fröhlich hin, denn er hatte etliche Jahre die Kunstakademie besucht, hielt sich darum für ein großes Talent und haderte mit dem Schicksal, dass es ihm nicht gestattete, jahraus, jahrein unverkäufliche Bilder zu malen, sondern ihm als Kirchenmaler eine auskömmliche Existenz geschaffen hatte. Um seinem misshandelten Talent (oder was er dafür hielt!) wenigstens einigermaßen gerecht zu werden, hatte er sich neben der Werkstatt einen abgesonderten Raum als »Atelier« eingerichtet, in dem er, wenn die Brotarbeit ihm Zeit ließ, Kitschbilder malte, sich in den wonnigen Schmerz der verkannten Genies hineinwühlte und von der Welt, der großen Welt träumte, nach der seine ganze Sehnsucht ging. Hinaus wollte er, nicht nur höher, sondern überhaupt hinaus aus dieser kleinen Stadt, in der das Leben ruhig, klar und gleichmäßig dahinfloss wie der Bach, der ihre Mühlenräder drehte. Peter aber wollte kein Leben im Bachstil. Er wollte die Wogen des großen Lebens brausen hören, mitschwimmen in der Welle, die über kühne Schwimmer tausend Lichtfunken hinsprüht, dass sie trunken werden vor Licht und Glanz und seligem Kraftgefühl. »Die bunte Welle« – seit er diesen Film mit Iva Ivetti gesehen hatte, ließ ihn die Vorstellung solchen Lebens nicht mehr los. Im Gegensatz zur blonden Elsbeth war er ein eifriger Kinobesucher, und die »bunte Welle« hatte er mindestens fünf- oder sechsmal an sich vorübergleiten lassen. Vor Iva Ivettis pikantem Bubikopf verblich der Blondschopf Elsbeths wie der malerische Zauber der kleinen alten Stadt mit ihrem rosenverhängten Wall, ihren mittelalterlichen Türmen und Toren vor den Bildern großstädtischen Lebens verblichen, die auf der Leinwand an Peters begeisterten und gläubigen Augen vorbeizogen.

Und siehe da! Knapp vor Himmelfahrt kam die bunte Welle wirklich in das Städtchen gerauscht! Oder nein, nicht gerauscht, sondern verkündet durch die Hupe eines Autos, das vor der »Goldenen Krone« hielt und dem eine Dame entstieg, wie man in diesem Bezirk noch keine gesehen. Zunächst war sie freilich ganz in Leder eingemummt, als wäre sie nur ein eleganter Koffer; als sie aber die Autovermummung abgelegt hatte, stand eine Gestalt da, wie aus dem letzten Modejournal gestiegen. Ein lachendes Gesicht unter einer Bubifrisur. Ihr hochgetürmtes Gepäck war nicht minder elegant wie sie, und der Wirt zur »Goldenen Krone« kam sich zu gleicher Zeit wie ein Begnadeter und wie ein Schächer vor. Wie ein Begnadeter, weil so viel Holdseligkeit und Zahlungsfähigkeit bei ihm absteigen wollte, und wie ein Schächer, weil er den Ansprüchen der Dame nur unvollkommen genügen konnte, denn sie begehrte ein Appartement mit Bad und Salon. Als er verlegen und stammelnd erklärte, dass sein bescheidenes Haus solchen Luxus nicht besäße, wurde sie nicht ungnädig, sondern begnügte sich mit zwei Zimmern, von denen eines eilig und so gut wie möglich in einen Salon umgewandelt wurde. Jedermann in der »Goldenen Krone« war neugierig, wie sich die Fremde auf dem Meldezettel einschreiben würde, und als man ihren Namen las, wuchs das Staunen ins Ungemessene. Von der »Goldenen Krone« aus verbreitete es sich im Städtchen, und das flüsternde Raunen und Staunen drang auch durch Peters Tür, der eben seinen Lehrjungen ausschalt, weil er mit dem Goldstaub so leichtfertig umging, als könnte man ihn auf der Straße auflesen.

Peter vernahm die seltsame Mär, wollte ungläubig den Kopf schütteln, strich aber doch an diesem Tag eifrig um die »Goldene Krone« herum. Und wahrhaftig! Das Gerücht hatte nicht gelogen. Die Dame im Bubikopf war sie, die bunte Welle, Iva Ivetti!

Das Herz stand ihm beinahe still vor Schreck und Glück. Und Iva, die sah, welchen Eindruck sie machte, lächelte ihm zu und gab dem Lächeln einen Blick mit, dass Peter meinte, schon in der bunten Welle zu schwimmen. Selbstverständlich führte ihn sein Weg nun zwei- bis dreimal täglich an der »Goldenen Krone« vorüber, und weil ihm Iva jedes Mal gütiger zulächelte, fasste er sich eines Tages zu seinem eigenen Staunen ein Herz, trat mit Verbeugungen und hochrotem Gesicht auf sie zu und stammelte Unzusammenhängendes von Bewunderung und Verehrung.

Iva sah ihn nachdenklich an und sprach freundliche Worte. Da sie merkte, wie glücklich er dastand, lud sie ihn sogar in ihren improvisierten Salon, ließ Tee bringen, bot dem sich im Paradies Wähnenden Zigaretten an, rauchte selbst mit jener Grazie, die Peter schon in der »Bunten Welle« hingerissen hatte. Dazwischen plauderte sie von der großen Welt, die er immer nur von ferne brausen hörte, das heißt, sie sprach nur von sich und ihrem Leben. Von den Anstrengungen ihres Berufes, von den Reisen, die sie durch alle Weltteile führten, von den Triumphen, die sie überall feierte, von ihrem Palais in Berlin. Peter war berauscht. Kaum, dass er nachts ein Auge zutun konnte, so tanzten all die Bilder vor ihm, die Iva ihm entrollt hatte. Und – o Glück! Der Rausch erneuerte sich Tag für Tag, denn Iva schien großes Gefallen an Peter zu finden, lud ihn immer wieder in ihren Salon, erkundigte sich nun auch nach seinem Leben, besuchte seiner Werkstatt, war entzückt von seinen braven Bildern, sagte, dass er nicht am richtigen Platze stünde, und gewährte ihm schließlich, was er nie zu hoffen gewagt hätte: Sie saß ihm für ein Porträt. Eine einzige Bedingung knüpfte sie daran: »Es darf nicht ausgestellt werden! Ich will es ganz still für mich behalten.« Da er sie fragend ansah, sagte sie seufzend in düsterem Ton: »Fragen Sie nicht, Sie großes Kind! Es gibt im Leben Verhältnisse und Abgründe, von denen Sie nichts ahnen! Meine Sicherheit gebietet mir, für einige Zeit aus der Öffentlichkeit zu verschwinden …, im Privatleben meine ich. Man ist ja umstellt von Neidern und Verbrechern. Darum habe ich mich hierher geflüchtet in die Stille, zu guten Menschen, die von den Intrigen der Großstadt und der Kollegen nichts wissen.«

Wie von Schmerz überschauert bedeckte sie die Augen mit der Hand. Peter war erschüttert. Am liebsten wäre er vor ihr niedergestürzt, hätte ihr die Hände geküsst und geschworen, dass er sie wie ein Ritter gegen jedermann verteidigen wolle. Aber es gebrach ihm dann doch an Mut zu solch heldischer Pose, und so machte er sich an das Porträt, dessen Umrisse sich bald auf der Leinwand zeigten.

In der Werkstatt ging indessen alles drunter und drüber, und der Lehrjunge hielt es für angezeigt und ungefährlich, einen alten Küchenschemel seiner Mutter mit Goldverzierungen zu versehen.

Peter plätscherte in Seligkeit über die bunte Welle. Iva Ivetti hatte ihm erklärt, dass sie es für ihre künstlerische Pflicht halte, ihn der Kleinstadt zu entreißen und ihn an den Platz zu führen, der einem jungen Meister (wahrhaftig, sie sagte »junger Meister«) gebühre. Sie würde ihn mitnehmen in die Hauptstadt – alles weitere sollten ihre vornehmen und einflussreichen Freunde besorgen.

Die Stadt sprach nur noch von Iva Ivetti und von dem ungeheuren Reichtum, der um sie her war. Jede Woche brachte der Briefträger ihr einen Wertbrief, und das Zimmermädchen der »Goldenen Krone« erzählte von Spitzen, Seidenwäsche und Essenzen, dass allen Damen ringsum die Haut schauderte vor Entzücken und Entrüstung. Peter aber ging einher, schon ganz »junger Meister«, ganz Günstling von Fürsten, Filmsternen und verwandten Gesellschaftsklassen. Und weil Iva Ivetti eben von der Großzügigkeit der Weltdame war, für die Geld keine Rolle spielt, fragte sie Peter bei einer der Sitzungen mit charmantem Lächeln, ob er ihr für ein oder zwei Tage mit etwa tausend Mark aushelfen wollte, ihr Wertbrief habe sich diese Woche verspätet, und – hier zögerte sie ein wenig.

»Und ich hatte mir’s so hübsch gedacht, wenn wir beide über Pfingsten von hier wegflögen, irgendwo hin, wo es still ist, stiller, als es hier zu Pfingsten sein wird. Ich bin überzeugt, dass das Inserat eine Menge anderer Leute anlocken wird, wie es auch mich angelockt hat! Besonders Kolleginnen und Kollegen von mir werden nicht widerstehen. Wir Geistesarbeiter sind ja am ruhe- und erholungsbedürftigsten! Und darum meinte ich, Sie und ich könnten dem Schwarm aus dem Weg gehen, das heißt, wenn Sie wollen! (Ein Blick traf ihn bei diesen Worten, ein Blick, der sich nicht schildern lässt.) Aber ohne Geld kann ich natürlich weder abreisen noch ausfliegen. (Ein Lächeln, so kindlich-vertrauend und auch so verheißend, dass es sich ebenfalls nicht schildern lässt.) Und darum, wenn Sie so freundlich sein wollten …«

Ob er wollte! Er war beglückt von ihrem Vertrauen und entzückt von der Unbefangenheit, mit der sie ihn bat! Wenn er dagegen an das kleinstädtische Getue dachte, das die Frauen rundum bei allen Geldangelegenheiten zutage förderten! Er hatte just vor kurzem eine kleine Erbschaft gemacht, beschämt, dass es nur neunhundertzwanzig Mark waren, händigte er sie Iva ein.

Sie hauchte: »Ich danke Ihnen, mein Freund, die Bitte ist mir doch schwerer geworden, als Sie denken! Aber nun wollen wir auch ein schönes, stilles Pfingstfest haben, ganz für uns! Sonnabend vor Pfingsten wollen wir abreisen! Denken Sie sich aus, wohin! Sie sind ja hier in der Gegend besser bekannt als ich!«

Er hatte gar nicht nötig, sich etwas in dieser Hinsicht auszudenken, denn dank der besonders günstigen Pfingstzugsverbindung langte an besagtem Sonnabend neben einem kleinen Häuflein Gäste auch die Polizei an, und nun kam sich der Wirt zur »Goldenen Krone« nicht nur wie ein Schächer, sondern auch wie ein bekanntes Grautier vor. Die Polizei verhaftete nämlich eine bei ihm wohnende Hochstaplerin, die unter Missbrauch des Namens Iva Ivetti schon zahlreiche Betrügereien verübt hatte. Ehedem Zofe bei der echten Filmdiva, hatte sie, während die Diva auf Reisen war, sich aus deren Garderobe reich ausgestattet und trat überall unter dem Namen der ehemaligen Herrin auf. Die große Sicherheit ihres Benehmens und eine oberflächliche Ähnlichkeit mit der Filmdiva kamen ihr bei den Betrügereien zustatten und die einlaufenden »Wertbriefe« erhöhten ihren Kredit. Man fand sie uneröffnet im Besitze der falschen Ivetti – sie enthielten nur zusammengefaltetes Zeitungspapier, das ihr eine Freundin nachgesandt hatte. Peter Beringer hatte seitdem keine Sehnsucht nach der bunten Welle, seine Vorliebe für das Kino und auch den Glauben an seine große Begabung eingebüßt. Über den Lehrjungen entlud sich ein gewaltiges Donnerwetter und anschließend daran kratzte Peter wütend ein angefangenes Frauenporträt von der Leinwand. Ging dann in die Werkstatt und schaffte wie nie zuvor.

Die blonde Elsbeth aber sitzt jetzt von früh bis spät an der Nähmaschine, denn in ein paar Monaten soll Hochzeit sein.


Textnachweis
Aus: Wiener Bilder, XXXVI. Jg., Nr. 21, 24. Mai 1931, S. 16–18. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Helene von Taussig, Weiblicher Akt auf blauem Stuhl, um 1920/1930

Der Unersetzliche

von Carry Brachvogel (1864–1942)

Der jähe Tod des berühmten Professors versetzte die kleine Universitätsstadt, an deren Hochschule er jahrzehntelang gelehrt hatte, in die größte Aufregung. Seine Beerdigung gestaltete sich zu einer imponierenden Kundgebung, wie sie das dankbare Vaterland nur seinen großen Söhnen bereitet. Der König hatte die sonst nur bei Fürstenbegräbnissen übliche Trauerhoheit entsendet, jede europäische Universität eine besondere Deputation. Alle Fachkollegen, die ihn beneidet und gehasst hatten, umstanden schmerzerfüllt seine Gruft und freuten sich, dass sie nicht drin lagen. Die Chargierten der Korps, Burschenschaften und freien Verbindungen legten prächtige Kränze an seinem Sarge nieder und versprachen dem Verstorbenen feierlich alles, was Chargierte nur versprechen können, wenn sie in Wichs sind und »im Namen« reden. Die Berichterstatter großer Zeitungen notierten und erfanden rührende und charakteristische Züge des Toten, in denen fast immer von seiner Hässlichkeit, seiner Barschheit, seiner Weltunerfahrenheit und seinem innigen Familienleben die Rede war, denn das Publikum hat’s gern, wenn ein großer Gelehrter hässlich, grob, weltfremd ist und ein Familiensimpel obendrein. Der Verstorbene hätte auch in der Tat weder mit dem Apoll von Belvedere noch mit dem höflichen Herrn v. Knigge konkurrieren können, hatte es auch nicht unter seiner Würde gefunden, ungefähr ein Halbdutzend Kinder zu zeugen – selbstverständlich alle legitim. Nur so ganz weltunerfahren schien er nicht gewesen zu sein, denn er hinterließ ein beträchtliches Vermögen. Davon aber brauchte schließlich das Publikum nichts zu erfahren …

Nach der Beerdigung gingen die Fremden tieferschüttert in ihr Hotel und die Einheimischen, nicht minder tieferschüttert, in die Kneipe. Etliche, die nicht einmal der Alkohol zu trösten vermochte über den Verlust, den die Alma Mater erlitten, begaben sich noch bei anbrechender Nacht hinaus vor die Stadt, nach einem bescheidenen kleinen Haus, das mit seinen herabgelassenen Fensterläden, hinter denen rosiges Licht schimmerte, äußerst sittsam und gemütlich aussah. Es war auch sittsam und gemütlich, denn es wurde ausschließlich von Damen bewohnt und ausschließlich von Herren besucht …

Am nächsten Morgen stand der Erstchargierte des Korps »Tantania« vor dem Mathematiker der Universität. Der Erstchargierte – Fritz v. Kumpfmüller – war der Sohn eines Oberstaatsanwaltes, Neffe eines Konsistorialrates und zweier Kirchenräte und berechtigte also selbstverständlich zu den schönsten Hoffnungen; trotzdem war er sonst ein normaler Mensch. Er sah etwas übernächtig aus – wahrscheinlich hatte er sich über den unersetzlichen Verlust der Alma Mater mit zu starken Mitteln trösten wollen. Auch dass er in seiner Angelegenheit gerade zum Mathematiker kam, ließ auf sanfte Verblödung schließen.

Der Mathematiker berechnete eben die schönsten Logarithmen und ließ sich zunächst durch den Eintritt des Herrn v. Kumpfmüller nicht im Geringsten stören. Erst als der Studiosus über seine einleitenden Worte hinaus dem Kernpunkt der seltsamen Angelegenheit näher kam, fuhr der Professor auf seinem Sitz herum.

»Herr Studiosus, das ist unmöglich! Sie … Sie müssen sich täuschen! Wie, dieser edle, unersetzliche Tote, auf dessen herrliches Familienleben wir alle mit Bewunderung blickten … er sollte … O, undenkbar!«

»Herr Professor, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen!«

»Wo, wenn ich fragen darf?«

Der Studiosus zögerte eine Sekunde lang, dann sagte er mit edlem Anstand und einer schweifenden Handbewegung:

»Bei der Mina selbst … gestern Abend …«

Da war der Mathematiker überwunden und erklärte sich für inkompetent. Selbstverständlich aber wollte er den ungeheuerlichen Fall unverzüglich dem Senat vortragen, so erforderte es das Ansehen der Alma Mater. Er tat etwas Niedagewesenes – er schob seine Logarithmen beiseite, begab sich unverzüglich und in großer Bestürzung zu seinen Freunden, dem Juristen und dem Historiker.

Der Historiker schrieb gerade an einem Buch: »Die Ethik der Assyrer im Jahre 961 v. Chr. in ihren Wechselbeziehungen zum Moralbegriff der Babylonier.« Es ist also begreiflich, dass er im ersten Augenblick nicht recht verstand, um was es sich handelte, dann aber bestürzt rief: »Wie?! Eine Hetära sagen Sie … (er betonte das »a« am Schluss, denn er hielt es für sehr ungebildet, wenn ein Mensch »Hetäre« sagte). Eine Hetära und dieser große, unersetzliche Tote …«

Der Jurist fragte, ob Defloration vorläge oder Folgen des außerehelichen Beischlafes vorhanden wären. Da jedoch weder die Logarithmen noch die Ethik der Assyrer darüber Aufschluss gaben, konnte ihm keine Antwort werden …

Am nächsten Tage schon trat der Senat zu einer Sitzung zusammen, in der die peinliche Angelegenheit besprochen und schleunigst erledigt werden sollte. Schleunigst. Sonst sahen am Ende noch andere, was der Studiosus v. Kumpfmüller gesehen hatte, und der Tote war noch im Grabe geschändet, die Alma Mater lächerlich gemacht, vernichtet …

Der Dekan der philosophischen Fakultät hatte das Referat übernommen. Er beherrschte sein Thema tadellos, denn er hatte sich genau informiert, so weit das, ohne Aufsehen zu erregen, möglich gewesen war. Aus Respekt vor der Würde des Senats berichtete er alle peinlichen Details nur im Flüsterton. Trotz der gedämpften Stimme lag die Sache aber doch bald klar am Tage: Der hochverehrte, unersetzliche Tote, der weltfremde Mann mit dem herrlichen Familienleben war ein regelmäßiger Gast jenes sittsam-behaglichen Hauses gewesen, hinter dessen geschlossenen Fensterläden abends rosiges Licht schimmerte … Und einer der Damen – Mina – hatte er kaum acht Tage vor seinem Tode seine Photographie mit einer launigen Unterschrift geschenkt. Er war nämlich, wie alle wussten, ein leidenschaftlicher Amateurphotograph gewesen …

Obschon des Dekans Flüstern fast erstarb, als er an das Bild kam, bemächtigte sich des ganzen Senats dennoch eine tiefe Entrüstung.

»Ein Hurenknecht also!«, sprach der Magnifikus. In diesem Jahr war gerade die theologische Fakultät an der Reihe und die biblische Stärke des Ausdruckes erschien daher begreiflich. Alle waren niedergeschmettert. Nicht einmal der Literarhistoriker wagte die Sache mit dem Bild zu verteidigen, obwohl er in den Kreisen der Alma Mater als Repräsentant einer schönen, gesunden Sinnlichkeit galt. Er las nämlich seit zwanzig Semester ein Goethe-Kolleg mit besonders schonender Behandlung der Vulpius und war außerdem Junggeselle.

Sein Halsknorpel, der neugierig über den umgelegten Hemdkragen hinaussah, hüpfte zwar etliche Male auf und ab, als wolle der Mann mit der schönen, gesunden Sinnlichkeit etwas sagen, aber ein Blick auf den biblischen Magnifikus und auf den ehrfürchtigen Flüsterdekan band dem Goethe-Professor alsbald wieder die Zunge.

Entrüstung allein war aber nicht der Zweck dieser Senatssitzung. Vielmehr war man zusammengetreten, um über das Bild zu beraten und über die Stellung, welche man zu ihm einnehmen sollte.

»Wir müssen das Bild erwerben«, sagte Magnifikus. »Es darf nicht in einem Freudenhause von Hand zu Hand gehen.«

»Und zwar muss es gleich erworben werden«, fügte der Jurist bei, »denn es ist anzunehmen, dass gerade jetzt, da das Interesse an dem Erblasser noch sehr rege ist, das Bild in eigennütziger, wenngleich nicht straffälliger, aber darum doch verwerflicher Absicht gezeigt werden könnte.«

Nach kurzer Beratung wurde beschlossen, einen unlimitierten Betrag für den Ankauf des Bildes auszuwerfen.

»Wer von den Herren übernimmt nun die traurige Mission, sich mit jener … jener« … »Hetära«, sagte der Historiker entschlossen. »Nun also, sich mit jener Hetära wegen des Bildes in Verbindung zu setzen?«

Der Magnifikus hatte gefragt. Alle blieben stumm. Nur der Dekan wagte schließlich zu fragen, und zwar ganz laut:

»Sollte man nicht vielleicht den Herrn Studiosus v. Kumpfmüller …?«

Magnifikus lehnte mit einer hoheitsvollen Geste ab.

»Die Würde der Alma Mater gebietet, dass die traurige Angelegenheit auf den engsten Kreis beschränkt bleibe.«

Nach etlichem Hin und Her wurde einstimmig der Literarhistoriker als die geeignete Persönlichkeit bezeichnet. Er las ja, wie gesagt, seit zwanzig Semestern ein Goethe-Kolleg mit besonders schonender Behandlung der Vulpius – also konnte ihm nichts Menschliches fremd sein. Er weigerte sich zwar ein wenig und sein Halsknorpel hüpfte aufgeregt auf und ab, aber schließlich nahm er die Sendung an. Mit den Dankesworten des Senats und seinem unlimitierten Betrag machte er sich auf den Weg …

Magnifikus erwartete ihn am nächsten Morgen – vergebens. Und am nächsten und am übernächsten, aber er wartete umsonst. Er konnte sich dies Zögern nicht recht erklären, aber da er Theologe war, wartete er mit Gottvertrauen. Am vierten Morgen endlich trat der Entsendete ein. Er war etwas blass, aber er hatte die würdige Haltung eines Mannes, der seiner Pflicht genügt hat. Sein Halsknorpel jedoch duckte sich hinter dem Hemdkragen, als schämte er sich dessen, was jetzt kommen musste …

Schweigend legte der Literarhistoriker ein sorgfältig versiegeltes Päckchen vor Magnifikus nieder. Der staunte im Stillen, dass eine einzige Photographie so dick sein könne, riss das Päckchen auf … sah … staunte noch mehr … begriff und war so empört, dass ihm nicht einmal das kleinste Bibelwort einfiel.

Das Päckchen enthielt nicht nur eine, sondern mindestens ein Dutzend Photographien, fast alle nach Dilettantenart geknipst, denn der berühmte Mann war ja ein leidenschaftlicher Amateurphotograph gewesen. Nur ein einziges Bild, das obenauf lag, war aus dem ersten Atelier der Stadt. Hässlich, struppig, wie er im Leben gewesen, zeigte es ihn. Unten stand von seiner Hand: »Der fidelen Mina in treuer Anhänglichkeit ihr alter Professor.« Die anderen Aufnahmen hatte er selbst geknipst. In anmutigen Gruppenbildern zeigten sie ihn und Mina, zuweilen auch noch in Gesellschaft der einen oder anderen Dame. Diese Bilder hätten sich nicht gerade für ein Jungmädchenzimmer geeignet, aber sie waren allesamt sehr flott und lustig und bewiesen, dass der unersetzliche Tote auch außerhalb seines Faches ein Mann von Begabung gewesen war …

In der nächsten Senatssitzung wurden die Bilder feierlich verbrannt; Magnifikus schob sie eigenhändig in den Ofen. Als die ersten Rauchwölkchen aufstiegen, schlug er heimlich das Kreuz; der Halsknorpel des Literarhistorikers schaute in träumender Erinnerung auf all die Reize, die zur höheren Ehre der Alma Mater verkohlten …

Als das Autodafé beendet war, öffnete Magnifikus die Fenster, um den abscheulichen Brandqualm hinauszulassen. Alle atmeten nun leicht und froh. Ihre Stimmung verschlechterte sich erst wieder, als der Literarhistoriker seine Abrechnung »für Bilder und Nebenspesen« vorlegte. Sie betrug nämlich an dreihundert Mark.

Zur Strafe dafür fiel der Urheber der ganzen Sache – Studiosus v. Kumpfmüller – beim Examen glänzend durch, nachdem er vorher zu den schönsten Hoffnungen berechtigt hatte.


Textnachweis
Aus: Die Muskete. Humoristische Wochenschrift, Bd. V, Nr. 114, 5. Dez. 1907, S. 74–75. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Alice Pike Barney, In Pose, um 1900

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