Ein Kindermärchen

von Aglaia von Enderes (1836–1883)

Draußen hinter dem Dorfe, wo die uralten Eichen und Fichten stehen und das hohe, zerbröckelte Felsstück liegt, mit dem vielen weichen grünen Moos darauf, dort lag vor Jahren und Jahren ein großer, dunkler Wald. Das Dorf war damals noch viel kleiner, als es jetzt ist, und viel stiller, und wenn des Abends die Glocke vom Kirchturme läutete, dann hallte das von dem Felsstücke und dem Walde ganz tönend wider, so dass man meinte, das Glockengeläute käme von dort herüber. Damals stand dort im Walde ein winziges, zausiges Häuschen. Es war nur aus Baumrinde, Erde und Holz gemacht; ganz nieder, braun und grün sah es aus; denn das langhalmige Waldgras wuchs in wehenden Büscheln aus allen Fugen hervor, die Schnecken krochen daran auf und nieder, und nicht selten huschten im Frühlinge und Sommer die Vögel zwischen den Gräsern ab und zu und spielten Verstecken.

In diesem Häuschen aber wohnte ein kleines, uraltes, verhutzeltes Männchen; das war selbst so braun und so knorrig, als wäre es aus Baumrinde gemacht, mit einem langen, langen Barte und zwei funkelnden, blitzenden Augen, die ernst und klug aus dem verschrumpften Gesichte schauten. Es war eigentlich nicht heimlich anzusehen, das Männlein, wenn es so leise aus seinem sonderbaren Häuschen hervortrat, mit den dunklen Augen forschend in den Wald hinausspähte, als sähe es dort etwas, wo eigentlich nichts Besonderes zu sehen war. Es scheute sich aber niemand vor ihm; die Vögel blieben ruhig sitzen und sangen lustig fort, das Häschen hockte vor ihm nieder und schaute mit hochgespitzten Ohren das kleine, dunkle Männchen an und naschte dann unbesorgt weiter von den Blattknospen am nächsten Busche. Wer sich aber am wenigsten vor ihm scheute, das waren die Kinder.

Allabendlich kam eine ganze Schar mit dem Vesperbrot in der Tasche vom Dorfe zum Walde gezogen. Über die lange grüne Wiese, wo im Frühlinge die vielen blauen Veilchen wachsen und im Winter die schwarzen Krähen und Dohlen im funkelnden, weißen Schnee herumstolzieren, kam das kleine Kindervolk hergepilgert. Aber nur im Frühlinge, Sommer und Herbst; im Winter war der Wald im Schnee begraben, und die Hütte und das Männchen wohl auch; die Mütter und Väter sagten das und die Kinder blieben zu Hause. – Dafür aber, wenn die schöne, die warme Zeit kam, wenn der Wald im dunkelgrünen Kleide prangte und der weiche Moosboden voll duftender Blütchen stand, dann saß die ganze Kinderschar draußen unter den uralten Bäumen kunterbunt durcheinander, und ihr gegenüber, auf einem alten, umgestürzten Weidenstamme saß das Männchen und erzählte. Keines der Kinder rührte sich, alle die bausbackigen, roten Gesichter schauten unverwandt auf den kleinen Mann, keines der braunen und blonden Köpfchen bewegte sich, höchstens dass sie manchmal bejahend nickten, wenn ihnen der Alte ihre Zustimmung abverlangte.

Es war aber auch ganz merkwürdig, was das Männchen alles wusste, und wie es von jedem Dinge eine lange, erstaunliche Geschichte zu sagen hatte. Es wusste, wie die Sonnenstrahlen fliegen, wie ihr herrliches, funkelndes Schloss aussieht, aus dem sie jeden Morgen in die Welt hinausziehen, wie lange die Schleppe ihres goldenen Gewandes und wie viele blitzende Edelsteine darüber gestreut sind. Es hatte den Wind gesehen, die Nacht mit den dunklen Augen und dem bleichen Gesichte und den Morgen, wie er lachend von einem Sterne zum anderen sprang, bis er der Sonne in die offenen Arme fiel. Vom Feuer, vom Wasser wusste es zu erzählen, von den kleinen Wurzeln unter der Erde, vom Würmchen, das unter der Baumrinde begraben lag, und von dem Fledermäuschen, das mit zuckenden Flügeln unter der alten Fichte auf und nieder flog. – Manchen Tag gab es ernste Geschichten oder traurige, manchen Tag gab es so lustige, dass die ganze Kinderschar in jubelndes Gelächter ausbrach, so dass es weit in den dunklen Wald hineinschallte. Das Männchen aber saß stille auf dem Baumstamme und erzählte fort und fort und fuhr mit den Händen durch die Lüfte und schaute mit den blitzenden Augen rundum, und die Worte kamen eines um das andere; der Erzähler hatte nicht nachzusinnen, nichts zu bedenken; es war alles so, wie er sagte, und die Kinder wussten das. Bei dem Erzählen war es den kleinen Horchern immer, als weinte und lachte der Alte mit ihnen, als jauchzte er mit ihnen oder könnte er vor Schluchzen nicht sprechen, aber dem war nicht so; das Jauchzen und Schluchzen lag nur in seinen Worten, er weinte und lachte nicht mir, sondern saß zusammengekauert und schaute mit den dunklen Augen über die Kinderköpfe hinüber, tief, tief in den finsteren Wald hinein.

Und so saßen die Kinder; und wenn die Sonne unten war, und in irgendeinem hohen Baumwipfel ein Stern sein Silberlämpchen hing, dann schwieg der Alte plötzlich stille, die Kinder krabbelten vom Boden auf und flüsterten leise: »Gute Nacht.« – Das Männchen aber regte sich nicht und ließ den Kopf auf die Brust herabsinken, als rüstete es sich zum Schlafe.

Die Kinder aber gingen Hand in Hand zwischen den Baumstämmen durch, bis sie draußen im Freien waren, auf der großen Wiese, auf der die Tautropfen im Mondlicht blitzten. Über die jagten sie dann dem Dorfe zu, immer schneller und schneller, während die Käuzchen vom Waldrande herüberschrien und die Nachtschwalben, über den Büschen, ihre gaukelnden Tänze hielten.

Wenn man aber des Nachts nach dem Walde schaute, dort wo die winzige Hütte hinter den Eichen und Fichten verborgen stand, so sah man oft plötzlich hinter den Bäumen eine himmelhohe Feuergarbe aufsteigen, ein Funkenregen blitzte zwischen den Zweigen nieder, und ein Klingen und Klirren, ein Hämmern und Feilen, ein Pochen und Schlagen ertönte, wie von kleinen Silberhämmern, die auf einem silbernen Ambos niederfielen. Die Bäume standen dann wie in Verklärung, so rot und goldig angeleuchtet, und die Luft war voll von dem feinen Glockentone. Aber wer vom Dorfe das sah oder hörte, der schlich ganz leise nach Hause; denn er wusste, der Alte arbeite draußen im Walde, und es bringe Tod und Verderben, wollte man ihn dabei belauschen.

Und so ging es seit undenklichen Zeiten fort. Die Sage erzählte, dass einst draußen im Walde ein ganzes Volk solcher Männlein gehaust; fleißig und tätig, in Frieden mit dem Dorfe, einsam und vergnügt; bis man den Wald zu lichten begonnen, die sonnigen Felder ringsher immer breiter und größer wurden, und der Waldrand immer tiefer hineinrückte. Mit den fallenden Baumstämmen lichtete sich das Volk der Zwerge; immer wenigere und wenigere wurden von ihnen, und als man zuletzt den großen Eichenstamm umbrach, den man weit in das Tal hinaus sehen konnte, da waren sie alle verschwunden, alle, bis auf den einen. Der tummelte sich einsam und trübselig zwischen den Zweigen des gefallenen Baumes herum und trug Ästchen, Eicheln und Zweige zusammen, und sammelte die bemoosten Rindenstücke, die zerschmettert am Boden lagen, und baute die Hütte zwischen den Stämmen aus Holz und Erde auf. Dabei aber sah der kleine Mann so finster und traurig darein und hob und senkte so verzweifelt die Arme, dass die Leute sich zu fürchten begannen und scheu und ängstlich den Zwerg gewähren ließen.

Seither steht der Waldteil unberührt, die Erwachsenen meiden die Bäume und die Stelle, und nur die Kinder gehen hinaus und hocken dort nieder und kommen mit glühenden Wangen und blitzenden Augen nach Hause. Und die Eltern lassen sie ruhig gewähren; denn auch sie sind als Kinder draußen gewesen und haben die schönen, die wunderbaren Geschichten gehört, und auch ihre Eltern und Großeltern und Urgroßeltern; ja das war nun schon sehr lange her; kaum mehr zu denken.

Aber außer den Geschichten hatte der Alte noch andere Freuden, mit denen er die Kinder glücklich machte. Alle Jahre im Spätherbste, wenn das Laub zu fallen begann und die Wildgänse langsam mit eintönigem Rufe über den Wald hinzogen, dann sagte der Alte abends, wenn er mit seiner Erzählung zu Ende war, zu einem der Kinder: »Morgen abends werde ich dir eine Freude machen.« Und wenn er das sagte, dann sprang der kleine Beglückte himmelhoch, denn das war dann eine wirkliche Freude, die ihm bevorstand, und ein Beweis, dass der Alte mit ihm vor allen anderen den ganzen Sommer über zufrieden gewesen.

Dieselbe Nacht aber sah man das Feuer zwischen den Bäumen lodern und hörte das Hämmern und Pochen, und am nächsten Abende waren die Kinder nicht draußen im Walde, sondern liefen alle zu dem kleinen Kameraden, dem der Alte gestern für heute eine Freude versprochen; und da fanden sie dann immer irgendeine Bescherung, irgendein Spielzeug, das ganz merkwürdig, ganz sonderbar war, so wie man es nirgends zu kaufen bekommt, selbst in der größten Stadt nicht.

So hatte einmal eines der Kinder einen Stein bekommen, ein raues Stück Fels, mit etwas Moos darauf, und einen kleinen Farrenbüschel. Das Felsstückchen lag auf dem Fenster, niemand wusste, wie es dahin gekommen, und das Kind sah es trübselig an, und wendete es nach allen Seiten; es hatte sich eine glänzende Bescherung erwartet, und nun hatte es nichts bekommen als ein bemoostes, knorriges Stückchen Stein. Aber wie es das Ding so wendet und drehte, da sah es unter dem Moos einen schmalen kleinen Spalt, und aus dem kam ein eigentümliches, zitterndes Licht hervor, und als das Kind neugierig besser hinsah und den Stein ganz dicht an das Auge hielt, da sah es, zu seinem Erstaunen, in einen ungeheuren Raum hinein, in dem es fast ganz dunkel war und nur von Zeit zu Zeit aufleuchtete. Und gleichzeitig hörte es ein Rauschen und Brausen, ein Zischen und Tosen wie von stürzenden Wässern, und eine kühle, feuchte Luft drang aus dem Steine hervor.

Aber da wurde es plötzlich drinnen licht und helle, hohe Felsen wurden sichtbar und tiefe Abgründe, grausige Steinzacken, die wie Berge hinausragten; und von hoch oben, von der höchsten Spitze, toste ein Wildbach in die Tiefe hinab; erst sprang er in einem weiten Bogen von der Höhe herab, dann zerschellte er bald rechts, bald links an den Steinen, fiel in glänzenden Strahlen und Tropfen auseinander, und stürzte dann brausend und blitzend in den Abgrund hinab. Zwischen den Steinzacken und Felsen glimmte aber plötzlich bald da, bald dort ein Fünkchen an, bald da, bald dort zitterte ein Lichtchen, und von allen Seiten kamen kleine, winzige Männlein hervor, die hatten jeder ein Lämpchen am Gürtel hängen, ein Schurzfell vorgebunden und allerhand Werkzeug in den Händen, – Hämmer und Spaten, Schiebkarren und Beile, Meißel und Äxte, Stemmeisen und Zangen, und mit all dem machten sie sich ans Werk.

Das war nun ein Klettern, ein Schieben, ein Hämmern und Pochen, bald hoch oben, bald tief unten an dem dunklen Gesteine. Und wo sie hinschlugen, begann es zu glänzen, wo sie den Fels spalteten, blitzte es wie eitel Gold und Silber und Edelstein hervor. Von Zeit zu Zeit löste sich ein oder das andere Stück glänzenden Metalles unversehens los und fiel in die Tiefe; dann schlugen die Wellen hoch auf und hörte man das unten gurgeln und rollen, als wäre das Erz ins Endlose gefallen. Die Zwerge aber kümmerten sich nicht darum; sie kletterten und klopften, sie sammelten und schoben, sie bauten silberne Brückchen von einem Felsen zum anderen und trugen die herrlichsten Edelsteine zusammen. Wo man hinsah, rührten und regten sie sich; bald schlüpften sie in ein Felsloch, bald kamen sie hinter einer Steinzacke hervor, bald ritten sie weit draußen auf einer Felsenkante und hämmerten daran herum.

So war es drinnen in dem kleinen Steine, den das Kind in den Händen hielt und jauchzend seinen Kameraden zeigte.

Ein ander Mal wurde einem kleinen Mädchen ein wunderhübscher, winziger Apfelbaum beschert. Er stand wie festgewurzelt auf dem Fenster, Grashälmchen wuchsen an dem Stamme, goldgrüne Blätter glänzten an den Zweigen, und zwischen diesen lugten die herrlichsten rotbackigen Äpfel hervor. Das war ein Jubeln und Lachen! alle Kinder des Dorfes kamen herzugelaufen, alle wollten die Äpfel sehen und berühren und, wenn es anging, auch kosten; und sie wurden gekostet; das war ein köstliches Naschwerk. Sie waren wohl nicht groß diese Äpfel, höchstens wie eine Erbse, aber so süß, so duftend, so herrlich; Hunderte hingen an dem Bäumchen; einen durfte jedes Kind bekommen, mehr aber nicht; denn der Baum sah ja so wunderbar prächtig mit den roten Früchtchen aus. Die Kinder konnten sich nicht sattsehen und saßen bis zum Abende davor und schauten in die grünen Zweige hinein. Aber da schüttelten sich plötzlich die Äste, der Wipfel bebte, als wäre ein brausender Windstoß durch denselben gegangen, und eine Menge Äpfel fielen in das Gras unten am Baumstamme hinab. Die Kinder machten sich jauchzend darüber her und begannen zu sammeln und zu schmausen, was von oben herunterfiel. Aber das kleine Mädchen jauchzte nicht mit, sondern schaute mit angstvollen Blicken auf sein liebes Bäumchen hin, von dem ein Apfel um den anderen herabfiel, während die Zweige zitternd bebten. Die schönen grünen Blättchen begannen sich zu entfärben, sie wurden rot, gelb und braun und hingen endlich dürr und trocken an den Zweiglein und fielen, wie vom Winde verweht, leise wirbelnd und zitternd in das Grab herab.

Die Kinder schauten verdutzt auf den dürren, kahlen Baum und gingen still nach Hause. Das kleine Mädchen saß bis spätabends in einem Winkel der Stube und schluchzte und weinte, dass sein liebes Bäumchen gestorben sei. Und in der Nacht konnte es nicht schlafen; es war ihm gar zu weh zumute, und als der Mond so freundlich hereinschien, da stand es ganz leise auf, um noch einmal nach seinem dürren Bäumchen zu sehen. Aber, was war mit dem vorgegangen? – Das war ja weiß überzuckert mit weichem, glänzendem Schnee, und feine winzige Flöckchen fielen noch immer darauf nieder und hüllten alle Ästlein ein und alle Zweige, und das Gras unten am Baumstamme. Und das glitzerte und flimmerte alles wunderbar im Mondlichte; jede Flocke war ein Sternchen, und jedes Sternchen flunkerte wie ein Edelstein.

Das kleine Mädchen saß die ganze Nacht und schaute dem Schneefalle zu, und wie sich kleine weiße Hügel auf den Zweigen aufbauten, und wenn sie recht hoch und spitz waren, plötzlich herabfielen in das überschneite Gras. Aber nach und nach hörten die Flocken auf zu fallen, die Äste zitterten und rüttelten sich wie im Winde oder als hätten sie geschlafen und wollten nun erwachen. Der Schnee fiel erst herab, dann begannen die Zweige zu tropfen, als regnete es hinein, und als es Morgen wurde und die Sonne zum Fenster hereinleuchtete, da waren alle Flocken verschwunden, und statt der Schneesternchen glänzten grüne und weiße Knöspchen an den Zweigen; und die wuchsen und wurden immer größer und größer, und nach einigen Stunden waren sie alle offen und aufgebrochen, und das ganze Bäumchen prangte und duftete in Blütenschnee. Die Sonne leuchtete hinein, winzige Käferchen, wie Sandkörnchen so klein, kamen in grünen und goldenen Paraderöckchen angeflogen, niedliche Bienchen summten, und zwei Vöglein, jedes so groß wie eine Fliege, schlüpften zwischen den Zweigen auf und nieder und zwitscherten und sangen sich leise Lieder vor.

Aber die Blütenblättchen fielen ab, die Baumblätter wuchsen, und die Fruchtknöspchen wurden größer und größer; erst waren sie grün, dann gelb, und endlich wurden sie rund und glühten in purpurnem Rot als prächtige herrliche Äpfel zwischen dem grünen Laube hervor.

So fanden die Kinder vom Dorfe den Baum, als sie nachmittags zum Besuche kamen. Das kleine Mädchen aber ließ sie pflücken und ernten nach Herzenslust; es wusste ja, dass für das Bäumchen der Herbst gekommen, und dass heute Nacht wieder Winter und morgen Früh wieder Frühling wird.

Nicht alle Kinder im Dorfe bekamen Geschenke; jedes Jahr nur eines von ihnen, dasjenige, welches in der Schule am besten gelernt hatte, sich im Hause am artigsten und freundlichsten betrug, keine Blumen köpfte, keine Vogelnester ausnahm, draußen im Walde am aufmerksamsten zuhörte und die Geschichten am besten im Gedächtnisse behielt. Der kleine Mann wusste genau, was drüben im Dorfe, auf der Wiese, im Felde und in der Schule geschah, und wenn er des Abends eines der Kinder finster ansah oder ihm gar mit dem braunen, knochigen Finger drohte, dann wusste es jedes Mal genau, warum das geschah, und schlich beschämt von dannen. –

Das war im letzten Jahre dem kleinen Hans gar oft geschehen. Hatte er die Schule gestürzt, die Hofhühner gejagt, seinen Kameraden irgendeinen Schabernack gespielt, so suchten ihn am Abende die Blicke des Alten und erhob sich drohend die hagere Hand. Hans mochte sich noch so weit hinten verkriechen, hinter dem letzten Kinde im Grase hocken, die zwei dunklen, forschenden Augen fanden ihn heraus und schauten ihn drohend an. Hans fürchtete den Alten, und er wäre vielleicht schon längst fortgeblieben, hätte ihn nicht immer wieder die Neugierde hinaus in den Wald gelockt. Erst waren da die schönen Geschichten, die so wunderbar klangen, und die Hütte des Alten und die sonderbaren Werkzeuge, die ringsumher lagen und die niemand berühren durfte. Ein paar Mal hatte es Hans schon versucht und war ganz nahe an das Häuschen herangeschlichen und hatte das sonderbare Mauerwerk betastet; aber da hatte sich eine Waldschnecke, die daran hinaufkroch, plötzlich aufgerichtet wie ein Hase, der ein Männchen macht, und hatte ihn aus zwei großen Glotzaugen angestiert, und ein Grasbüschel, nach dem er griff, schoss feurige Strahlen hervor, so dass Hans verschüchtert sich wieder nach seinem Platze hinter den anderen Kindern schlich.

Da war ein anderer Knabe aus dem Dorfe, ein lustiges, fleißiges Kind, voll gutem Willen, freundlichem Sinne und einem lieben, treuherzigen Gesichte. Der sagte guten Morgen und guten Abend zu den Alten im Dorfe, mit den Jungen war er gut Freund. Wenn er plauderte, klang es fröhlich und freudig, und wenn er lachte, lachten alle anderen mit; draußen im Walde aber saß er immer stille und machte große Augen, wenn etwas gar zu wunderbar klang, und daheim erzählte er der Mutter, was er gehört und erlebt. Und zu diesem Knaben sagte der Alte eines Abends im Spätherbste: »Gute Nacht, Fritz, morgen sollst du eine große Freude haben.«

Der Kleine wurde über und über rot und riss die Mütze vom Kopfe und machte einen Kratzfuß, weil ihm im Augenblicke nichts Besseres einfiel; aber am Heimwege rannte er wie toll über die Wiese voran, dem Dorfe zu, und schoss wie ein Pfeil zu seiner Mutter in die Stube und fiel ihr um den Hals.

»Morgen bekomme ich eine Bescherung, Mutter«, jubelte er und rannte in den Hof, um es auch dem Vater zu sagen.

»Der Alte arbeitet draußen im Walde«, sagten die Leute, welche des Abends vom Felde heimkehrten; der Himmel war schon dunkel; die helle Feuergarbe stand hochaufgerichtet über den Bäumen, und das laute, silberne Klingen tönte vom Walde herüber. Alles ging zur Ruhe, das kleine Fritzchen lag im Bettchen und horchte auf das Klopfen und Pochen und konnte kaum einschlafen vor Freude für den morgigen Tag.

Auch der kleine Hans konnte nicht schlafen, auch er hörte das Klingen und Hämmern und sah vom Fenster das Sprühen von Feuerfunken, die über dem Walde aufflogen. Was geschah jetzt dort? Niemand konnte das sagen, niemand hatte je zugesehen. Wenn er jetzt so hinausschliche, ganz leise; niemand wüsste, dass er dort gewesen, niemand, selbst die Mutter nicht. Erst dachte er es bloß, dann stand er mit beiden Füßen außer Bette, dann schlüpfte er in seine Kleider, dann klinkte er die Tür auf und zu, und dann flog er wie der Sturmwind zum Dorfe hinaus. Draußen auf der Wiese lag kalter Tau und finstere Nacht. Aber Hans brauchte nicht zu tasten, er kannte seinen Weg. Die Käuzchen riefen rechts und links, der Herbstwind rüttelte die Bäume, und die Blätter fielen knisternd und rauschend zu Boden. Hans ging jetzt langsamer, die Feuergarbe leuchtete, das Hämmern klang immer näher und näher. Hans bückte sich zu Boden und schlich auf Händen und Füßen herzu.

Der Wald stand wie im Brande. Immer näher und näher kam Hans heran, hinter dem Brombeerbusche vorüber und hinter dem Eichbaume; dort wollte er bleiben, und dort blieb er auch, auf allen Vieren, mit weit offenen Augen und langgestrecktem Halse. Da gab es aber auch zu schauen.

Dicht neben der Hütte, mitten aus der Erde, schoss eine hohe, tanzenden Flamme empor, und rings um sie her loderten Tausende von winzigen Flämmchen wie Glühwürmchen aus dem Boden. Jedes Moospflänzchen hatte ein Feuerhütchen auf, alle Schnecken hatten in ihren Häuschen ein Lichtchen angezündet und sahen ganz glänzend und durchsichtig aus; von jeder Tannennadel an den Bäumen leuchtete ein Lämpchen, von jedem Steine sprühte ein Fünkchen hervor. – Und mitten in diesem Feuermeere, das die Hütte des Alten umgab, stand ein silberner Ambos, und vor diesem Ambos sprang der Alte ab und zu und hämmerte und formte und pflückte bald da ein Pflänzchen und hob bald dort ein Steinchen und fügte und beguckte und schwang bald etwas durch die Lüfte und knetete es zwischen den Fingern und benetzte es mit dem Munde und drehte es im Kreise herum. Das ging alles so schnell wie im Wirbel; Hans konnte nicht sehen, was der Alte eigentlich machte. Er kroch näher und näher, noch einen Schritt … da krachte ein Zweiglein unter Hansens Füßen; der Alte wandte sich wie ein Sturmwind um, seine zwei funkelnden Augen glühten wie zwei Flammen auf den Knaben nieder; dann hob er den Hammer und ließ ihn auf den Ambos niederfallen.

Ein furchtbarer Knall, wie ein Schuss, ging durch den Wald; die Flammen waren erloschen, die Nachtvögel flogen schreiend auf und schlugen mit den Flügeln, die Käuzchen kreischten draußen auf der Wiese, und dann war alles stille, ganz stille, im Walde draußen.

Der kleine Hans aber floh mit bleichem Gesichte und fliegenden Haaren dem Dorfe zu.

Am anderen Morgen gab es ein Laufen und Rennen vom Dorfe zum Walde und wieder zurück. – »Er ist fort«, sagten die Alten; »er ist fort«, schluchzten die Kinder. –

Im Walde lag die Hütte umgestürzt, verkohlt, verbrannt. Etwas Asche lag am Boden, ein gebrochener Baumstamm darüber, das war alles. Auf dem Baumstamme aber saß Fritzchen und weinte. Ihn hatte das doch am härtesten betroffen, wo blieb seine Freude für heute? Ach, er hatte vor Glück die ganze Nacht nicht schlafen können. –

»Ich weiß es, du kommst nicht mehr zurück, du guter Mann«, sagte er und hob ein wenig Asche auf, die er vor Tränen kaum sehen konnte. Mit dem Häuflein Asche in der Hand ging er des Abends heim. Ganz still und traurig ging er durch die Dorfgasse, alle Leute hatten die Türen zu; denn der kalte Herbstwind wehte über die Dächer. Fritzchen ging ins Haus und tappte im Dunklen nach der Stubentür und klinkte sie auf. Da kam ihm ein heller, glühender Lichtschein entgegen, und ein Hämmern und Pochen klang an sein Ohr, und als er vollends in die Stube rannte, da stand auf dem Fenster eine kleine leibhaftige Schmiede mit Feueresse und Blasebalg, mit Hammer und Ambos, und zwei winzige schwarze Gestalten hantierten drinnen herum und schwangen die Hämmer und drehten die Zangen und schürten das Feuer. Und draußen vor der Schmiede hielten Wagen und Reiter, Pferde wurden beschlagen, Räder gebessert und das Fuhrwerk wieder zusammengeflickt. Und wenn die Leute weiterzogen, bis um die Ecke der Schmiede, dann waren Ross und Reiter und Wagen verschwunden, und von der anderen Seite kamen andere her. Das war ein Leben und Treiben; drinnen in der Schmiede das Hämmern und Klopfen, das Feuerlicht und das Funkensprühen, und draußen das Rasseln und Fahren, das Pferdewiehern; und Tiere und Menschen so nett und klein.

Fritzchen schrie vor Glück und Freude; alle Kinder im Dorfe mussten noch gerufen werden und schauten und staunten. Auch der kleine Hans trat herein, aber er stand bleich und still in der Ecke.

Und wie die Kinder so frohlockten und sich nicht sattschauen konnten, da sah Fritzchen unter den vielen kleinen Leuten, die an der Schmiede hielten, plötzlich ein winziges braunes Männchen; es war viel kleiner als die anderen und hatte ein altes, verhutzeltes Gesicht. Es hielt sich nicht vor der Schmiede auf, sondern ging eilig seinen Weg; aber dabei sah es immerfort auf Fritzchen und winkte ihm leise mit seiner kleinen, braunen, knochigen Hand wie zum Abschiede. Die anderen Kinder sahen es nicht. »Leb wohl!«, sagte Fritzchen flüsternd, und die Tränen kamen ihm in die Augen, und darum meinte er wohl, er habe auch das Männchen weinen sehen; und als Fritz sich die Augen trockenwischte, da war die kleine, dunkle Gestalt hinter der Ecke der Schmiede verschwunden – auf Nimmerwiedersehen.


Textnachweis
Aus: Die Dioskuren. Literarisches Jahrbuch des Ersten Allgemeinen Beamten-Vereins der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, 2, 1873, S. 198–206. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Wisinger-Florian, Blumenpflückendes Mädchen auf einer Waldlichtung, 1881

Die Alte von der Eiche

von Aglaia von Enderes (1836–1883)

Niemand von allen den Leuten im Dorfe wusste zu sagen, seit wann die alte Saatkrähe in der alten Eiche, draußen am Rande des Fichtenwaldes wohne; niemand wusste zu sagen, wann sie dort zuerst gesehen worden, denn die schwarze Krähe war älter als die alten Leute vom Dorfe. Diese wussten nur, dass sie Jahr um Jahr mit jedem Frühlinge gezogen komme, dass sie einst mit einer anderen Krähe, mit einem fröhlichen, jungen Genossen ihres Volkes, dort oben in dem Astwerk der Eiche alljährlich ihr stattliches Nest bewohnt und eine Schar von kleinen krächzenden Rabenkindern großgezogen habe. – Aber dies war nun auch schon Jahre her und nun wohnte sie allein dort oben in der knorrigen Baumkrone und hütete allein ihr einsames Haus.

Die anderen Saatkrähen hatten sich in den Fichtenbäumen angesiedelt. In hellen Haufen kamen sie in den ersten schneefreien Tagen des Februar, mit dem ersten lachenden Sonnenschein in das Tal geflogen und in den dunklen Wald gesaust. Mit fröhlichem Getümmel begrüßten sie die grünen Wipfel, die geheimnisvollen Verstecke unter den Zweigen und das weite Ackerland, das sich südwärts über die Hügel dehnte.

Mit Gekrächze und Gelärme wurde die Heimat begrüßt und dann wurde zur Arbeit geschritten. Gab es da zu schaffen, zu ordnen, zu sorgen! Heimtückisch, zornmütig und rücksichtslos hatte der Wintersturm in allen den Horten und Burgen gehaust, nicht ein Nest war unberührt geblieben und überall lag am Boden zu Füßen der Fichten verwehtes und gebrochenes Trümmerwerk. Solcher Anblick genügte Jahr um Jahr, um das Volk der Krähen in Aufruhr zu bringen. Wie sollte in all dem Reisig, in all den Moosbüscheln und dürren Halmen, die da unten lagen, über Mein und Dein entschieden werden? Zornig fassten sie an, die eifrigen Bauleute, mit Krähenhast und nach Krähenart rüttelten und zerrten und zogen sie, oft zwei, oft drei an ein und demselben Zweiglein, krächzend flog jeder mit seiner Beute von dannen und trug sie auf seinen Fichtenast. Tagelang ging das so fort; unten am Boden, auf der angrenzenden Wiese, in den nächsten Büschen wurde gerungen, mit den Schnäbeln gehackt, mit den Flügeln geschlagen, oben unter den Fichtenkronen wurde gestohlen, von einem Nest zum andern getragen, fortgeholt, was sich fortholen ließ und im Entdeckungsfalle mit dem Nachbar gefochten, gekrächzt, gelärmt, dass der Wald von dem Getümmel wiederhallte.

Die alte Krähe saß indessen ruhig in ihrem stillen, einsamen Hause und ordnete darin, was es da nach Schnee und Sturm des Winters zu ordnen gab. Zuweilen hielt sie in ihrer Arbeit inne und horchte nach dem Tumulte hinüber. Einst war auch sie mitten unter den anderen, einst stritt auch sie, wie sich’s für eine echte, tapfere Saatkrähe geziemt; – aber das war lange, lange her und jetzt schlug sie sich das luftige, wirbelnde Flattern und Lärmen aus dem müden Sinn.

Von dem jungen Volke kam keiner herüber, sie zu stören. Die alte Krähe und die alte Eiche gehörten zusammen. Das wussten sie, und niemand hatte ein Recht, an das moosige Reisig und Bauwerk zu greifen, das dort oben seit vielen Jahren lag; alte Sparren, altes Fachwerk, ohne weiches Moos, ohne Flaum und Gräser, nichts als ein kahles Gebälke auf dem kahlen, knorrigen, verdorrenden Eichenbaum. »Der Wipfel ist dürr, die Äste sind morsch, das Herz ist krank an dem alten Stamm«, dachten wohl die jungen, fröhlichen, lebenslustigen Krähen und ließen den einsamen Vogel allein auf seinem einsamen, verfallenden Horste.

Indessen kamen wärmere und wärmere Tage. Der Streit im Fichtenwalde war zu Ende und in jedem Neste lagen vier, auch fünf junge Rabenvögel und krächzten und sperrten die langen Schnäbel auf, während ihre Eltern in Hast und Eile nach den Feldern und Wiesen hinausflogen und an Würmern, Käfern und Raupen eintrugen, was sich in dem Lande finden ließ.

Einige Wochen später waren die Jungen flügge; in mattschwarzen, netten Kleidern saßen sie auf dem Nestrande und schauten durch das dunkle, grüne Fichtengezweig in die helle Welt hinaus. Jetzt kam die alte Krähe von dem Eichenbaum zu Besuch in die Fichten geflogen. Sie setzte sich zu den Kindern, die mit ängstlich angezogenen Schwingen an der Schwelle ihres Hauses standen, sie plauderte und knurrte ihnen leise vor nach Krähenart, sie glitt dann sachte vom Nestrande fort und wiegte sich auf den weiten Flügeln und rief und lockte die Kleinen und endlich, wenn das jagende Volk ewig nicht kommen, nicht folgen wollte, streifte sie mit der Spitze ihrer Schwingen bald rechts, bald links an der kleinen Gesellschaft vorüber, bis diese aus dem Gleichgewicht kam, und, eiligst die Fallschirme spannend, halb erschreckt und halb erstaunt von dem Fichtenzweige und dem Neste fort, auf die Wiese hinaus flog.

Von solch’ denkwürdiger Stunde an war die alte Krähe nicht mehr so einsam wie früher. Nun hatte sie die Jungen auf die Wiesen, auf die Äcker, auf das Jagdland hinauszuführen; niemand von allen wusste ja so gut Bescheid hier wie sie, niemand, selbst die Eltern nicht, die ja doch auch noch so jung waren, wie die alte Krähe bei sich dachte. Und da ging dann der ganze, große, dunkle Flug früh am Morgen schon, vom Walde fort in das Land hinaus. Wie eine schwarze Wolke tauchte er aus dem Fichtengewipfel auf; hunderte und hunderte von glänzenden Flügeln schaukelten sich im hellen Tageslicht und eine laute, krächzende Morgenhymne tönte von einem Ende des weiten Tales zum andern wieder.

Mitten unter dem lustigen Volke war die alte Krähe; sie schlug wohl nicht so übermütig die Flügel wie die andern, sie konnte auch nicht wie sie aus voller Brust ihr Morgenlied singen, aber sie freute sich des Bewusstseins, dass sie mittue mit ihren lieben schwarzen Leuten und freute sich der Erinnerung an längstvergangene Zeit, in der sie mit ihren eigenen Kindern über Busch und Heide flog.

Dann führte sie die Jungen in das Ackerland hinab; Scholle an Scholle, und jede ein Versteck für die Feinde der Saat; hier die Höhle des nagenden Engerlings, da das Bett der schlummernden Larve, dort der Schlupfwinkel des Regenwurmes, daneben die Türe zum Hause der Feldmaus, überall Spuren und Weg und Steg des verderblichen, verwüstenden, nimmerruhenden Gelichters, das Halm um Halm zu Tode bringt. Wie die Rächer des Frevels, der sich hier unausgesetzt vollführt, langte die schwarze Schar der Saatkrähen auf dem Felde an. Voran schritt die Alte, stolz und aufrecht, im Bewusstsein ihrer Führerschaft. Purpur und violett schillerte ihr glänzend schwarzes Gefieder, hell leuchteten ihre nussbraunen Augen und stoßbereit trug sie den langen spitzen Schnabel; ober diesem hatte sie eine kahle, raue, federlose Stelle. In der Jugend war das anders; da hatte sie auch ein glattes Gesicht, wie die anderen Krähen vom Walde, aber das war jetzt längst vorbei, und die Arbeit in der Ackerkrume, das Auflesen der Würmer und Engerlinge zwischen den rauen, borstigen Stoppeln hatte die harte, raue Schwiele in das alte Saatkrähen-Gesicht gebracht.

Und nun führte sie die Jungen zur Arbeit. »Hübsch die Schollen umgedreht, frisch hineingeschaut in die Erde, dort das Mäuslein gehascht, nicht gezögert, wenn es gilt – nicht gerastet – fort und fort gesucht, geforscht! Die kranken Gräser aus dem Boden gezogen; da hockt der nagende Wurm an der Wurzel; die nackte Schnecke weggeschafft, die Heuschrecke gehascht, den Käfer, der vorübersurrt – schnell, schneller müsst ihr sein, ihr kleinen, täppischen Leute, wollt ihr dem Saatkrähenvolke Ehre machen.« – So bedeutete wohl die alte Krähe den Jungen, wenn sie vor ihnen herschritt, in dem Boden wühlte und manches Würmlein vor die Füße der kleinen Schar hinwarf, die begierig danach haschte.

Am Abend flogen sie heim, die Jungen den Fichten zu, die alte Krähe nach der Eiche hin. Glorreich stand der mächtige Baum mit seiner zackigen, laubleeren Krone im glühenden Strahl der sinkenden Abendsonne, die auf das morsche Gebälke des Krähenhorstes niederleuchtete und auf die breiten Schwingen des Vogels, der langsam von Ast zu Ast schlüpfte und sich in seinem einsamen Hause zurecht machte.

Die Jungen wurden kühner und flogen nach und nach von den Wiesen und Feldern am Walde über das Dorf hin und nach den jenseitigen Hügeln. »Haltet hübsch zusammen und bedenkt, dass ihr Saatkrähen seid«, lehrte die Alte. »Mit Raben- und Nebelkrähen pflegt nicht Gemeinschaft; die sind zornmütig und zanksüchtig und behaupten das Recht der Stärkeren unserem Volke gegenüber. Zu den Dohlen haltet euch, das sind vornehme Leute, die wohnen hoch oben unter dem Kirchendach und schauen weit in das Land hinaus.« Und zu den Dohlen hielten sich die jungen Krähen, zu den vornehmen Leuten, die vom Kirchturm herunterkamen und wieder zum Kirchturm hinaufflogen und mit denen es sich bis unter die Wolken schweben ließ.

»Morgen gibt es Wind«, sagten die Leute vom Dorfe, wenn sie das schwarze Volk hoch oben kreisen sahen.

»Bald geht es an das Wandern«, dachte die alte Krähe, wenn sie von ihrem Horste nach den Wolken und nach den schwebenden Vögeln spähte, und dann breitete sie sehnsüchtig die Flügel aus. Aber die trugen nur über die nächsten Bäume und über die Gärten des Dorfes hin, und dort saß die Krähe auf einem Zaunpfahle nieder und sah den lustigen, lachenden Menschenkindern zu, die in der Dorfgasse spielten.

»Gegen Süden geht euer Weg«, bedeutete die alte Krähe den heimkehrenden Fliegern. »Immer dem Süden zu. Viele, viele werden sich zu euch gesellen, die Dohlen vom Kirchturm, die Saatkrähen vom nächsten Walde, und vom nächsten und so fort; zu Tausenden werdet ihr über Länder und Meere schweben, ein stolzes, fröhliches, glückliches Volk. Staunend werden die Menschen nach euch schauen, die jungen und die alten. Seid vorsichtig und klug; nahe an der Erde zieht schweigend hin, doch oben unter den Wolken mögt ihr jauchzen und rufen; das ist so alte, gute Saatkrähensitte.«

Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger und kalt. Der Nordwind jagte in das Land herein und fegte die Nebelwolken das Tal entlang. Vom Kirchturm flogen die Dohlen auf und vom Fichtenwalde her die Krähen; mit Sausen und Gebrause begegneten sie sich über den Häusern des Dorfes und machten sich zur Flugordnung zurecht und riefen ihren Abschiedsruf in das Tal hinab. Höher, immer höher stiegen die schwarzen Gesellen, bald flogen sie vorwärts, bald kehrten sie krächzend und lärmend um und schwenkten im Kreise, bald schossen sie eilend weiter auf der luftigen Bahn, die Hügel entlang, an dem Walde vorüber, immer weiter und weiter, immer höher, bis ihre Stimmen immer leiser wurden, ihre Flügel immer unsichtbarer und der ganze Zug in den sinkenden Nebelwolken verschwand.

Auf dem Gipfel der Eiche aber stand die alte Krähe und spähte den Ziehenden nach. Sehnsüchtig hob und dehnte sie die Flügel und neigte sich hinaus in die Luft. Wollten sie denn diese Schwingen nicht weiter tragen, nicht vom Norden fort, nie mehr dem warmen Süden zu? Sollte sie allein, vergessen, verloren, einsam sterben, sie, die Mutter eines ganzen ungezählten Saatkrähenvolkes – sie allein? Da rauschte es und brauste es ober ihr in den Lüften, und eine ganze Wolke von schwarzen Flügeln zerteilte den Nebel und ein langes, lärmendes, fröhliches Gekrächze ging los. Eine ganze unabsehbare schwarze Schar umkreiste und umflatterte die alte Eiche und umdrängte die Krähe und jauchzte ihr vom Wandern vor und bedeutete ihr, dass sie um ihretwillen noch einmal umgekehrt auf der luftigen Reise, denn: »Eine Saatkrähe verlässt die andere nicht!« Da kam Mut und Freudigkeit in das alte müde Herz und beglückende Erinnerung, und die gab den matten Flügeln Kraft, und hinauf ging es nun mit der jubelnden Schar in die Lüfte, dem Süden zu.

»Was doch die Krähen heute für ein Gelärme vollführen«, sagten die Leute im Dorfe und sahen nach dem Fichtenwalde hinüber.

Am nächsten Morgen aber war es dort stille; die Krähen waren fort. – Und stille blieb es bis zum nächsten Frühling, wo die alte, lustige, krächzende Wirtschaft begann und wo alles wieder so war wie die vielen, vielen Jahre her. Nur die Eiche stand nicht mehr auf ihrem Platze, die hatte der Sturm einer Winternacht niedergebrochen, und die alte Krähe kam nicht mehr, um ihren Horst in dem morschen Geäste aufzusuchen, die hatte tief unten im blühenden Süden das tapfere Herz und die müden Schwingen für immer zur Ruhe gebracht.


Kommentar
Aglaia von Enderes, geb. Podhaisky, stammte aus Wien. In den 1860ern begann sie, Feuilletons und Erzählungen zu veröffentlichen und sich in der Frauenbewegung zu engagieren. Ab 1873 war sie Sekretärin des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins. Ihre erzählerischen Texte zeichnen sich oft durch detaillierte Naturschilderungen aus. Mit ihren Federzeichnungen aus der Thierwelt (1874, ein zweiter Band folgte 1876) wurde Aglaia von Enderes zu einer Pionierin der modernen Tiergeschichte in der deutschen Literatur. In diese Kategorie fällt auch Die Alte von der Eiche, die 1877 im ersten Jahrgang von Peter Roseggers Zeitschrift Heimgarten erschien.

Textnachweis
Aus: Heimgarten, 1. Jahrgang, 1877, S. 518–521. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Tina Blau, Frühlingstag im Prater, um 1881/82

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