Eine Allerheiligenerinnerung von Adelheid Popp (1869–1939)

Der Schmelzer Friedhof, auf dem einst der Obelisk der Märzgefallenen stand, wird in einen Park umgewandelt. Der idyllische Totenhain aus den Tagen Alt-Wiens verschwindet, an den Stellen, wo die Gräber und Grüfte im grünen Schmucke prangten, werden Kinder ihre Reifen treiben, ihre Bälle springen lassen – wenn der Parkwächter es erlauben wird. Vor meinen Augen tauchen Bilder aus längstvergangenen Tagen auf. Der Schmelzer Friedhof nahm in meiner Jugend eine besondere Stelle ein. Er war der Vertraute und Freund aller meiner Erlebnisse. Von meinem Schmerz und meinem Glück, von meinen Freuden und Qualen, wie sie jedem, auch dem bescheidensten Leben beschieden sind, war der Friedhof am Rande der Schmelz Zeuge. Wenn der Frühling kam, begann ich alle meine freien Sonntage dort zuzubringen. Ganz oben, wo die Mauer den Friedhof vom Exerzierfeld trennt, stand neben verlassenen Gräbern, die von niemandem mehr besucht wurden, eine Trauerweide. Unter ihrem Schutz eine primitive, gerade für eine Person bestimmte Holzbank. Dort las ich meine Dichter: Lenau, Chamisso, Schiller, dann alle die Romane, die mir in die Hände kamen. Wenn der Flieder blühte, dann war der ganze Friedhof von seinen Düften erfüllt, denn zahllose Fliedersträuche befanden sich dort. Manchen Zweig nahm ich mit nach Hause, obwohl es im Volksmund heißt, man dürfe vom Friedhof keine Blume nach Hause tragen, sie bringe den Tod. Nur der Wächter durfte nichts von dem Raube sehen. Da versteckte ich denn die Zweige in meinem Sonnenschirm, nur um in unser Stübchen etwas von dem herrlichen Dufte mitnehmen zu können. Wenn ich arbeitslos war, selbst im Winter, wenn Schnee die Gräber deckte, ging ich oft in den Friedhof und hielt dort meinen Mittagstisch. Auf irgendeinem verschneiten Grabhügel sitzend, aß ich das mitgebrachte Brot.
Aber nicht davon wollte ich erzählen; nein, ich wollte nur zeigen, wie viele Fäden mich mit dem Orte verknüpfen, der bestimmt ist, den Kindern der künftigen Stadt auf der Schmelz Erholung zu bieten. Von meiner Liebe, die ich auf dem Schmelzer Friedhof hatte, will ich ja erzählen. Denn ich hatte dort eine »Liebe«.
Nie unterließ ich es, das geliebte Grab zu besuchen, und an den Tagen, an welchen die gläubige Christenheit Lichter brennt für die armen Seelen im Fegefeuer, ging auch ich zu »meinem Grab« und brannte meine Wachskerzchen. Wie andere ging ich zuerst zu dem im Mittelpunkt des Friedhofes hochaufgerichteten Heiland am Kreuze. Mit anderen betete ich dort, am Betschemel kniend, und blickte voll tiefen heiligen Mitleids auf die von Nägeln durchbohrten Hände und Füße des gekreuzigten Jesus. Wenn ich mit meiner Andacht fertig war, besuchte ich, so wie andere auch, die berühmten Gräber und Grüfte, den Blumen- und Laternenschmuck bewundernd. Dann aber schlug ich meine eigenen Wege ein. Auf der rechten Seite des Schmelzer Friedhofes befand sich das Grab, das meine Liebe barg. Kein Name war dort zu lesen, ich wusste nicht, wer unter diesem Hügel ruhte. Aber eine Gestalt befand sich dort, eine Gestalt aus leblosem Stein, die mich immer wieder anzog. Ein Jüngling in der Rüstung eines Ritters. Das Visier war geöffnet und ließ ein schönes, liebliches Antlitz sehen. Auf dem zu seinen Füßen lehnenden Schild waren nur Geburts- und Sterbejahr zu lesen. Vierundzwanzig Jahre alt war der gewesen, dessen Leib hier begraben war. Meine Phantasie wob Märchen um die anziehende Jünglingsgestalt in mittelalterlicher Rüstung. Ich konnte ihn mir lebend vorstellen und schmückte ihn mit den herrlichsten Eigenschaften. Am Allerheiligentag kaufte ich mir Wachskerzchen, die ich an seinem Grabe anzündete. Es war ein verlassenes Grab. Nie habe ich jemanden dort gesehen, der ein Recht darauf gehabt hätte. Nur Neugierige blieben stehen und sahen die Statue an. Kein Baum, kein Blumenschmuck zierte je diese mich so fesselnde Ruhestätte. Ich betete für seine »arme Seele« und brannte Kerzen für einen, dessen Namen ich nicht wusste, den ich lebend nicht gekannt und der wohl einer ganz anderen Welt angehört hatte, als die war, in der ich lebte. Mädchenphantasien! Ich schämte mich ihrer nicht. Waren doch diese phantastischen Mädchenträume das einzig Schöne meiner Jugend. Schließlich habe ich ja den Weg in die Wirklichkeit nicht verloren. Vom Beten für die im Fegefeuer Schmachtenden habe ich gelernt, mit vielen Tausenden anderen für die Erweckung der Lebenden zu kämpfen. Würden doch alle, die am Allerheiligen- und Allerseelentag noch Erlösungskerzen brennen, bald selbst erleuchtet werden, um zu lernen, für ihre eigene Erlösung zu kämpfen!
Mein Ritter vom Schmelzer Friedhof war seit vielen Jahren aus meiner Erinnerung ausgelöscht. Die Umwandlung des Friedhofs, an die in letzter Zeit erinnert wurde, hat mir auch seine Gestalt wieder lebendig gemacht. Statt Wachskerzen weihe ich ihm heute dieses Erinnerungsblatt.
Kommentar
Die österreichische Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin Adelheid Popp (1869–1939) wurde 1919 als eine der ersten sieben weiblichen Abgeordneten in den österreichischen Nationalrat gewählt. Neben ihrer politischen Tätigkeit trat Popp immer wieder als Autorin hervor. Neben zahlreichen im engeren Sinn politischen Schriften verfasste sie mehrere autobiographische Texte, von denen Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin, von ihr selbst erzählt (München 1909) der bekannteste ist. (Unter dem leicht vereinfachten Titel „Jugend einer Arbeiterin“ ist das Buch auch in einer aktuellen Neuausgabe erhältlich.)
Auch in Mein Ritter schildert Popp eine Erinnerung aus ihrer Jugend. Ort der Handlung ist der ehemalige Schmelzer Friedhof im Westen Wiens, der 1874 aufgelassen und schließlich nach dem Ersten Weltkrieg in einen Park umgewandelt wurde. Mein Ritter erschien zwar ursprünglich an einem 1. November und verweist im Untertitel auf Allerheiligen, passt aber auch zum 1. Mai. Zum einen, weil er prominent die Fliederblüte erwähnt, für die die alten Wiener Friedhöfe damals bekannt waren, zum anderen, weil Popp natürlich auch hier den Kampf für die Rechte der Arbeiter*innen als Rahmen um die eigentliche Erzählung legt. Explizit am Ende, implizit aber auch schon am Anfang des Textes: Das gleich im ersten Satz erwähnte Denkmal der Märzgefallenen, das an die Opfer der Revolution von 1848 erinnerte, war ein wichtiger Gedenkort der Wiener Arbeiter*innenschaft. 1888 wurde es auf den Wiener Zentralfriedhof übertragen, wo es sich als eines der letzten Überbleibsel des Schmelzer Friedhofs bis heute befindet.
Textnachweis
Aus: Arbeiter-Zeitung, 1. November 1912, S. 8. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)
Titelbild
Detail aus: Mary Cassatt, Flieder in einem Fenster, um 1880