Zwei Sonette

von Kazimiera Zawistowska (1870–1902)

Ich liebe dich

Ich liebe dich, weil du mir wiedergibst die schönen
Lenztage meiner Jugend – jene goldnen Stunden.
Dein Schatten folgt mir immerfort – mir treu verbunden,
Und meine Seele ruft nach ihm mit bangem Sehnen.

Dass deine Arme mich nur eng und fest umschließen –
Verhüll die Augen mir, will nicht die Zukunft sehen,
Vergessen will ich alles, was mir je geschehen
Und selig liebe Zärtlichkeiten nur genießen.

Es ist heut kalt und dunkel … Gib mir deine Augen!
Sie sollen tiefer Träume Gärten mir erhellen,
Drin süße Klänge sind und Gold und Purpurwellen

Und – farbenreich umstrahlt – ein froher Hochzeitsreigen.
Es ist heut kalt und dunkel … Über mir entsteigen
Der bösen Ahnung Träume … Gib mir deine Augen! …

Gib deine Träume mir …

Gib deine Träume mir, die für mich glühten –
Dass ich erblick in ihrem Spiegelbilde
Die eigne Seele mein so still und milde,
Gleichwie des Silberreifes zarte Blüten.

Führ wieder mich in die kristallnen Weiten,
Dass dort, erweckt von deinen lieben Händen,
Sich all die zarten Töne wieder fänden –
Zu jenem Liede, das uns starb vor Zeiten …

Du wirst mich wieder so wie einstens sehen:
Und meiner Seele tote Perlen leben
Dann auf und werden leuchtend neu erstehen.

Die schönste Weile will ich deinem Leben
Dann geben – um ins Dunkel fortzugehen,
Dass wir uns niemals … niemals wiedersehen.


Übersetzung
Aus dem Polnischen von Lorenz Scherlag

Textnachweis
Ich liebe dich, aus: Czernowitzer Tagblatt, 30. Mai 1909, S. 17.
Gib deine Träume mir …, aus: Czernowitzer Tagblatt, 16. April 1911, S.15.
(Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Wisinger-Florian, In Gedanken

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