Drei Gedichte

von Ricarda Huch (1864–1947)

Einsamkeit

Du neigtest, Herz, dich gern, wie sich die Birke neigt,
Dem Nachbarstamme zu.
Steh aufrecht, wie die Tanne trotzig steigt:
Allein bist du.

Wohl strömt ein jedes Ding des eignen Wesens Hauch
Den andern Dingen ein;
Doch will ihr Sehnen überfließen auch,
Sie sind allein.

Schlaft ihr umarmt auf einem Kissen, ihr erwacht
Wie Sonnen fern im Raum;
Nur dass ihr einmal träumt vielleicht bei Nacht
Den gleichen Traum.

Sei deine Welt, dein Stern; beglückt, wenn deine Glut
Am goldnen Leben schafft,
und ford’re nichts. Dir wird kein andres Gut
Als deine Kraft.

Herbst

Die gelben Blätter, wandernd in den Flüssen,
Des Glückes Überfluss, das ich besessen,
Die Küsse, die nun andre Lippen küssen –
Es ist nichts als Erinnern und Vergessen.
Wär’ wieder mein, was mir so lieb gewesen,
Grünte der Wald noch, den der Herbst geräumt,
Bald wär auch das vorbei und kaum geträumt.
O Herz, rings braust das ew’ge Licht Genesen!

Der Augenblick

Du schwebst, o schöner Augenblicke
Melodischer, geschürzter Tanz,
Um meine Rast, und die Geschicke
Drangvollen Lebens weichen ganz.

Ihr löst mich von der heil’gen Kette
Vergangner Tat und künft’ger Frucht,
In flammumstürmter Zufluchtstätte
Versinkt des Sklaven sel’ge Flucht.

Vertauscht die Jahre, mischt die Räume,
Betaut mich mit Vergessenheit!
Schwingt eure schlangenschnellen Säume:
Der Ring wird weit und weltenweit;

Traum wird Gestalt und nah wird ferne
In Zauberkreisen trunknen Lichts –
So blitzt die Ewigkeit der Sterne
Spurlos erlöschend durch das Nichts.


Textnachweis
Einsamkeit, aus: Neues Frauenleben, XXIII. Jahrg., Jänner 1911, Nummer 1, S. 26.
Herbst, aus: Neues Frauenleben, XXIV. Jahrg., Februar 1912, Nummer 2, S. 54.
Der Augenblick, aus: Neues Frauenleben, XXIV. Jahrg., September 1912, Nummer 9, S. 245.
(Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga_Boznańska, Landschaftsmotiv, um 1890

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