Phantastischer Spaziergang

von L. Andro (1878–1934)

Wer von euch, meine Freunde, fragte Lelio, ist gleich vom Bahnhof an in die Wunder einer Stadt geraten? Gewiss noch niemand. Denn unweigerlich führt irgendeine breite, gleichgültige tramwaybelärmte Straße von da weg, mag die Stadt nun Paris oder Nürnberg, Rom oder Kopenhagen heißen. Als ich in Prag ankam, geriet ich auch in solche lange, saubere, mit wohlhabenden Geschäften besetzte Straßenzüge, was mir eine Enttäuschung war. Indessen will ich sie nicht schelten. Sie führten mich wohl richtig, denn mit einem Male tat sich das wundervollste Bild vor mir auf: eine Brücke, von grauen Türmen bewacht, mit goldschimmernden Heiligenfiguren besetzt. Jenseits des ernsten stahlfarbenen Flusses grüne Kuppeln, reiche Paläste, verfallende Häuser, das alles kühn von einer Burg bekrönt, die aus graulilafarbigem Duft sich stolz und unerbittlich in ihren reinen Konturen gegen den Himmel hob. So schön war dies alles, dass ich lange in schweigendem Entzücken stehen blieb.

Und doch ist dies noch nicht das Schönste, sagte plötzlich eine Stimme neben mir. Dies ist nur das große Schaustück – jedem zugänglich und darum für den Kenner schon nicht mehr ganz so kostbar. Es gibt noch feinere, seltsamere Dinge.

Ja, ich weiß, sagte ich, auf die Hügel deutend. Die wunderbar mystische Welt des Hradschins, die sich da oben auftun muss. Rudolf II., Tycho de Brahe, Rabbi Löw – welche Assoziationen!

Der kleine dürre, sorgsam und altmodisch gekleidete Herr mit dem ergrauenden Backenbart neben mir verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Bleiben Sie mir um Himmelwillen mit den Golemgeschichten vom Leibe. Wenn Romantik bis ins Kino dringt, ist sie keine Romantik mehr. Freilich – ich möchte vor Neid sterben, wenn ich bedenke, was das für ein Stoff war, den ich mir da entgehen ließ!

Ach, Sie sind Poet?

Kriminalist! sagte der andre und verbeugte sich höflich. Kammergerichtsrat … Er murmelte einen Namen. Die Welt des Unbelebten, Lebendiggewordenen ist meine Spezialität. Wenn es Ihnen recht ist, führe ich Sie ein wenig. Sie dürfen aber nicht böse sein, wenn ich Sie bitte, die großen Schau- und Glanzstücke für ein andermal zu lassen und mir in meine besondere Welt zu folgen.

Gewiss nicht, sagte ich, froh, einen so sachkundigen Begleiter gefunden zu haben. Wir schritten zusammen über die Brücke. Vor dem Steinbildnis Johann von Nepomuks blieb er stehen.

Dieser ist der Märtyrer der Diskretion, versetzte er. Er starb, weil er das Geheimnis einer Frau nicht preisgeben mochte. König Wenzel hat ihn in die Moldau stürzen lassen, weil er das Beichtgeheimnis seiner Gemahlin, der sicherlich sehr schönen Königin Johanna, nicht verraten wollte.

Was hat sie ihm denn anvertraut? fragte ich neugierig.

Ich weiß es nicht. Und wüsste ich’s, ich würde es ebenso wenig verraten, wie er es tat. Wie kommt es, dass der stille Mensch da oben nicht zum Lieblingsheiligen aller Frauen geworden ist? Es gibt doch keine Gerechtigkeit, nicht einmal nach dem Tode. Ihr Herzenswächter sollte er sein und hat es nur zum Brückenzöllner gebracht – das ist keine Laufbahn. Aber wenn ich irgendwo eine Bauersfrau sehe, die ihm einen bescheidenen Asternkranz oder einen Strauß roter Ebereschen zu Füßen legt, dann denke ich: endlich eine, die die Schuld abzutragen versucht, in der er schon so lange bei ihrem ganzen Geschlecht steht!

Wir gingen der Kleinseite zu, aber in der Tat schien mein Begleiter die schönen Dinge geflissentlich meiden zu wollen. Sehnsüchtig streifte mein Blick die wundervollen Fassaden der Paläste und der Kirchen, aber es nützte mir nichts. Die schönen Bauten wurden immer spärlicher und verschwanden schließlich ganz. Eine traurige, nüchterne Proletariergegend umfing uns, Fabriksschlote wurden sichtbar, und die schimmernde Welt der wunderbaren Brücke schien nie gewesen zu sein. Ein leises Misstrauen fasste mich gegen meinen Begleiter. Wohin lockte er mich? Hätte nicht sein Deutsch so kultiviert und nordisch rein geklungen, ich hätte auch an seinem Titel zweifeln müssen. Ich machte eine schüchterne Einwendung: Wollen wir nicht lieber umkehren? Ich wollte eigentlich in Prag etwas ganz andres sehen!

Wenn Sie es wünschen – bitte! Aber was ich Ihnen zeigen werde, dürften Sie in keinem gedruckten Führer finden.

Wir waren am Ende der Stadt angelangt, da wo spärliche Hafer- und Kartoffelfelder sich schon zwischen die Häuser drängen. Vor einer langen Mauer blieb mein Begleiter stehen. Ein Pförtchen sprang auf.

Die Welt, die uns nun umfing, war freilich eine ganz andre. Ein entzückendes Barockhäuschen stand vor uns, von einem wundervollen Garten umgeben, in dem man schattige Alleen, kokette Schäferszenen, aus Sandstein nachgebildet, ahnte. Nach rückwärts schien er sich in duftiges Waldgelände zu verlieren. Auch mein Begleiter war ein andrer geworden. Mit sonderbaren Bewegungen, die in den Gelenken wie gelöst schienen, mit einem Lachen, das etwas Skurriles hatte, eilte er auf das Haus zu. Nur heraus, Meister, rief er. Nur heraus! Dabei zog er einen Gegenstand aus der Tasche, ihn entwirrend, in dem ich mit Erstaunen eine seidene Strickleiter erkannte. Er war das obere Ende an ein Fenster. Oben fing es eine Hand auf, befestigte es, und alsbald schwang sich eine Gestalt herab.

Ich war gar nicht weiter überrascht, dass dieser kleine Herr eine gepuderte Zopfperücke trug und einen grünseidenen Frack mit edelsteinbesetzten Knöpfen. Schönen Dank, lieber Kammergerichtsrat, sagte er, allerschönsten Dank, dass Sie mir da heraushelfen. Und zu mir, mit einem lustigen Zwinkern seiner großen Augen und in unverfälscht älplerischem Dialekt: Eing’sperrt haben’s mich! Nutzt ihnen aber nix! Er schwang vergnügt sein Stöckchen und verschwand lachend in der grünen Gartenwildnis oder vielmehr sie nahm ihn auf und schlug hinter ihm zusammen.

Herrgott, wer war das nur? fragte ich. Er kommt mir so bekannt vor …

Kommen Sie, sagte der Kammergerichtsrat. Wir kletterten die Leiter hinauf und traten in ein kleines, reizendes Zimmer. Die hellen Möbel hatten geschweifte Beine und die Fenster blickten ins Grüne. Wie es tönt! Was klingt da so? fragte ich.

Hören Sie nur.

Ich lauschte. Immer deutlicher wurde das Tönen. Ich verstand es mit einem Male. Erschauernd hörte ich unsterbliche Akkorde:

Kennen Sie das? fragte der Kammergerichtsrat.

Ob ich es kenne! Wer wagte es, Schönes schön zu finden, und kennte dieses nicht! Aber was ist es, das da so tönt?

Das sind seine Gedanken, sagte der Kammergerichtsrat feierlicher als bisher. Die Menschen haben ihn hier eingesperrt, damit er sein Meisterwerk fertig komponieren sollte. Als ob dieses Meisterwerk nicht längst fertig wäre! In einer Nacht wird er das alles einmal aufschreiben und die Leute werden sich wundern, wie er das so schnell fertigbrachte. Als ob er seine törichten Freunde nicht nur hätte necken wollen! Als ob die wunderbare Kraft der Inspiration mit dem Mechanismus des Aufzeichnens in einem andern Zusammenhang stünde als in dem der Zufälligkeit! Aber das alles habe ich in meiner Kreisleriana schon so ähnlich gesagt.

Kreisleriana, sagte ich und griff mir an den Kopf. Aber natürlich, es stimmt, auch Sie sind Kammergerichtsrat – und jener Mann mit dem Zopfe …

Still, sagte er andre und fasste mich heftig am Arm. Entweihen Sie wunderbare, gewichtlose Stunden nicht durch irdische Namen, die nur unvollkommene, törichte Schilder sind, für Gedanken- und Gefühlskomplexe, die sie niemals ganz einschließen. Sie werden eines Erlebnisses seltener Art gewürdigt – müssen Sie das gleich in einen historischen Rahmen einfassen?

Verzeihen Sie, sagte ich, ich muss aber doch etwas Ordnung in meine Vorstellungen bringen. Jener Mann war Mozart, und dieses Häuschen ist natürlich die Bertramka, in die er eingeschlossen wurde, um die Ouvertüre zum Don Juan endlich fertig zu komponieren. Das ist ja eine ganz bekannte Anekdote. Sie aber, Gott weiß, wie Sie hiehergekommen sind, Sie sind niemand andrer als der von mir hochverehrte E. T. A. …

In diesem Augenblick knarrte das rostige Pförtchen der Mauer, vor der ich mich wieder, ich weiß nicht weiter wieso, befand. Ein kleines tschechisches Mädel trat heraus. Sie hielt meine Visitkarte in der Hand und sagte etwas, was ich nicht verstand. Ein paar zerlumpte Kinder halfen mit es verdeutschen: Die Herrschaften ließen bedauern, gerade heut sei die Bertramka nicht zu besichtigen.

Lelio schwieg. Nun und? fragte jemand aus der Gesellschaft.

Nichts mehr. Ich stand in einer ärmlichen Gasse, vor einer Mauer, irgendwo aus der Ferne kam der Duft karger Felder herüber.

Und Ihr Begleiter?

Der war natürlich nicht mehr da. Die Geschichte ist zu Ende.

Aber sie hatte ja gar keine Pointe?

Seit wann haben Erlebnisse eine Pointe? Nur erfundenen Geschichten wird irgendeine Moralität beigegeben. Da diese hier wahr ist, hat sie keine.

Wahr! sagte einer der Zuhörer und lachte. Sie haben selbstverständlich geträumt!

Natürlich! rief Lelio zornig. Das ist immer eurer Weisheit letzter Schluss. Unsre feinsten Erlebnisse sollen darauf zurückgehen, dass wir abends zu viel Käse gegessen haben oder auf der unrichtigen Seite gelegen sind. Was ich erzählte, war – für mich wenigstens – die vollste, unangreifbarste Wahrheit!

Noch eins – erlauben Sie, sagte der Gegner. Die literarische Forschung weiß nichts davon, dass Hoffmann – und niemand anders war wohl Ihr Kammergerichtsrat – jemals in Prag gewesen sein sollte. Wüssten Sie etwas Bestimmtes darüber anzugeben, es könnte für die Literaturgeschichte von Wert sein. Aber leider ist zu befürchten, dass nicht einmal Ihre Träume logisch und Ihre Annahmen ganz willkürlich sind.

Ich kann in Prag herumspazieren mit wem ich will, sagte Lelio heftig. Und Sie, verehrter Herr, hätte ich mir niemals zum Begleiter ausgesucht!


Textnachweis
Aus: Donauland. Illustrierte Monatsschrift, Heft 3, 1918, S. 272–274. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Zdenka Braunerová, In einem ruhigen Garten in der Kleinseite, 1905

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