Der lästige Ausländer

Eine aktuelle Legende von Hermynia Zur Mühlen (1883–1951)

Er war des Himmels überdrüssig geworden, das Gedudel der Engel, die ewig heitere Ruhe der Seligen ging ihm auf die Nerven. So beschloss er denn, zur Erde niederzusteigen, und langte eines Tages an einem kleinen deutschen Ort an.

Dem Rate des heiligen Paulus folgend, hatte er genügend Geld mitgenommen, doch kehrte er nicht in dem erstklassigen Hotel ein, weil ihm die Schieber und die Offiziere in Zivil allzu widerlich waren, sondern begnügte sich mit einem kleinen Gasthof.

Den nächsten Tag hielt ihn ein Polizist auf der Straße an und verlangte seine Papiere zu sehen. Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich habe keine!«

»Woher kommen Sie?«

»Aus dem Himmel!«

Der Polizist starrte den schwarzbärtigen, blassen Mann verblüfft an. War der Mann etwa aus dem Irrenhaus entsprungen? Doch war der Polizist ein Mensch – freilich nur im Geheimen – und seine spöttische Überzeugung half ihm das Rätsel lösen. Sicherlich ist der Fremde aus Russland gekommen, wollte dies nur nicht aussprechen und umschrieb daher den Sowjetstaat mit der Bezeichnung Himmel.

»Sie müssen versuchen, sich eine Aufenthaltsbewilligung zu verschaffen«, meinte er gutmütig, und der Fremde nickte zerstreut.

Eine Woche lebte der Fremde still und unbehelligt in dem kleinen Ort, dann kam er unglücklicherweise an der gemeinsamen Mittagstafel mit einem Alldeutschen ins Gespräch, das bald, trotz der Milde des Fremden, in einen heftigen Streit ausartete.

»Wie erfrechen Sie sich, mir derartiges zu sagen«, brüllte der Alldeutsche. »Was wissen Sie vom reinen Germanentum? Was sind Sie denn eigentlich? Woher kommen Sie?«

»Ich bin Jude«, sagte der Fremde sanft, »stamme aus Palästina.«

»Natürlich!« Des Alldeutschen feistes Gesicht rötete sich vor Zorn. »Ostjuden, lästige Ausländer!«

Der Fremde blickte ihn verständnislos an.

Zwei Tage später erschien ein anderer Polizist bei dem Fremden und verlangte dessen Papiere. Da der Fremde bekennen musste, dass er keine besitze, wurde ihm mitgeteilt, er habe binnen vierundzwanzig Stunden Deutschland zu verlassen.

Der Alldeutsche lachte höhnisch, als er des Polizisten klobige Gestalt die Treppe hinabsteigen sah.

Der Fremde wusste nicht ein noch aus. Wohin sollte er, der keine Papiere besaß, in vierundzwanzig Stunden reisen? Ein wohlwollender Gast des Hotels zog ihn beiseite und riet ihm zu versuchen, über die Schweizer Grenze zu gelangen. Wenn die Leute dort sehen, dass er viel Geld besitzt, werden sie ihm keine Schwierigkeiten machen, auch solle er sich einen aristokratischen Namen zulegen, dann halten ihn die Schweizer Behörden vielleicht für einen Konterrevolutionär aus Deutschland oder Österreicher oder für einen Anhänger Horthys und werden ihn mit offenen Armen aufnehmen.

Der kluge Ratgeber hatte rechtgehabt, ungehindert überschritt der Fremde die Schweizer Grenze. Nun aber beging er einen argen Fehler. Anstatt in einem der vornehmen Hotels zu wohnen, begab er sich auch hier in ein schäbiges kleines Gasthaus, außerdem besuchte er bisweilen eine sozialdemokratische Versammlung, und so entstand das Gerücht, er sei ein »Bolschewik«, der die Schweiz samt ihrer Verfassung, ihren Hotels und ihren vielen konterrevolutionären Gästen an Russland verraten wolle.

Er wurde abermals ausgewiesen, doch weigerte er sich ebenso sanft wie hartnäckig, das Land zu verlassen, sagend, er habe auf Erden kein Vaterland und sei nirgendhin zuständig.

Ein Schweizer Flieger erbarmte sich seiner. »Gebt mir den Mann mit, ich werde ihn über die österreichische Grenze bringen«, sagte er, und die Schweizer Behörden nahmen seinen Vorschlag an.

Doch geschah es, dass am Flugzeug irgendetwas brach und der Wind es weitertrieb über die Donau. In Budapest musste der Flieger eine Notlandung vornehmen. Er setzte den Fremden auf der Straße ab und begab sich in ein elegantes Hotel.

Verloren und verwirrt schlenderte der Fremde dahin. Eine Offizierspatrouille kam ihm entgegen.

»Wieder so ein Saujüd!«, brüllte der Anführer.

»Nachschau’n!«, gebot ein zweiter.

Auf offener Straße rissen sie dem Fremden die Kleider herunter. Dann trieben sie ihn unter Schlägen vor sich her. An einer Kirchentür brach der Fremde zusammen.

Die Tür stand offen, frommer Orgelton drang aus der Kirche. Über dem Hauptaltar hing ein großes Kruzifix. Viele Männer und Frauen knieten betend davor. Die Offiziere schlugen ein Kreuz.

Der Fremde blickte sie verwundert an.

»Wie kommt es«, fragte er, »dass ihr mich dort drinnen anbetet und hier draußen erschlägt?«

Mit wildem Gebrüll stürzten sich die Offiziere auf ihn. »Gotteslästerer!« »Grindiger Jud’!« »Schlagt ihn tot!«

Sie rissen ihn weiter. Bei einem Baum machten sie Halt. Einer brachte einen Strick.

»Bet’ zu deinem Götzen, Saujud, deine letzte Stunde ist gekommen!«

Da hob der Fremde die Augen, und vor dem Licht, das aus ihnen strahlte, erschraken die Mörder. Sein Blick umfasste die ganze Stadt, und in ihm lag die Ahnung des letzten Gerichts. Da ihm einer den Strick um den Hals warf, betete er laut mit erhobenen Händen:

»Vater, vergib ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun!«


Textnachweis
Aus: Burgenländische Freiheit, 14. April 1922, S. 5. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Marianne Werefkin, Klostergarten, um 1926

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