von Grazia Deledda (1871–1936)

Es war im Oktober.
Auf der roten Weinbergmauer hockte der Studiosus Lixia und blickte in die raue, melancholische Landschaft hinaus, die ihm, wenn er fern war, doch manchmal so ungestümes Heimweh erweckte. Die einförmige, mit Besenkraut bewachsene Hochebene erstreckte sich bis zum Horizont, nur unterbrochen von einer hellen, steilen Landstraße und roten, mit rostfarbenem Moos bedeckten Felsen. Über dem dunklen Grün der Heide erschien der Himmel graublau. Das Getriller einer Lerche war der einzige Ton in der schweigenden Öde.
Was für ein melancholisches, unglückliches Land ist doch Sardinien, dachte der Student. Während die ganze Welt sich bewegt und fortschreitet, ist diese Insel tot. Und was noch nicht gestorben ist, ist dem Tode nahe; wie dieser Weinberg meines Vaters, das einzige, was noch grün ist in dieser Öde, an der Phyllorera zugrunde geht. Im nächsten Jahr werden nur noch die Mauern vorhanden sein, und ich kann den Weinberg nicht erneuern, denn ich verstehe nichts davon. Aber wer kommt da? Ach! Zio Pascale. Nun ist das Bild vollständig, denn der Alte mit seinem melancholischen Gesicht sieht aus, als ob er aus verrostetem Eisen wäre. Wahrhaftig! Wenn ich ein symbolistischer Maler wäre, so würde ich diesen Alten zwischen zwei Besensträuchern malen, einen roten Felsen und den bleichsüchtigen Himmel, und darunterschreiben: Sardinien.
Der alte Besenbinder kam langsam näher, und der Student vernahm Stöhnen und unterdrücktes Husten. Vielleicht hatte Zio Pascale das Fieber und phantasierte, denn jetzt hörte Lixia, wie er leise, doch in vorwurfsvollem Tone vor sich hin sprach: »Maria Annicca, warum hast du das getan? Wusstest du nicht, dass er ein steinreicher Mann ist? Ach! Was wird jetzt aus mir, mein heiliger Francesco!«
»Zio Pascale!«, rief der Student.
Der Alte, der eben mit seiner kleinen Sichel einen Besenstrauch schnitt, fuhr in die Höhe, als ob er aus einem Traum erwache, und hielt die Hand über die eingesunkenen Augen.
»Bist du eine Seele aus dem Fegefeuer?«
»Seht Ihr mich denn nicht?«
»Ach! Du bist der Sohn Batore Lixias. Gott segne dich, mein Herz. Ja, ich sehe nicht mehr recht, du kamst mir vor wie eine Wolke.«
»Was macht Ihr, Zio Pascale?«
»Ich schneide Besen. Und du bist jetzt ein Doktor, nicht wahr?«
»Noch nicht. Und was tut Ihr mit den Besen?«
Der Alte stöhnte und hustete krampfhaft; dann sagte er demütig, fast furchtsam: »Die bringe ich nach Nuoro zum Verkauf.«
»Jeden Tag?«
»Ach nein! Ja, als ich noch die Kraft hatte, als ich zwanzig, dreißig Jahre alt war. Aber jetzt …«
»Wie alt seid Ihr jetzt, Zio Pascale?«
»Achtzig …, nein, neunundsechzig, warte, mehr …«
»Neunundsiebzig?«
»Ja, es fehlt noch eins an neunzig.«
»Also Ihr wollt sagen, dass Ihr näher an hundert seid als an zwanzig, nicht wahr? Seid Ihr immer Besenbinder gewesen?«
»Immer! Aber sage mir, bist du jetzt am Hof des Königs angestellt?«
»Noch nicht, Zio Pascale! Vielleicht mit der Zeit … Wen habt Ihr bei Euch? Ihr scheint mir doch krank zu sein?«
»Krank, krank, sehr krank, mein Herzenskind. Ach, der Husten! Es ist, als ob ich hier in der Brust und im Halse eine Säge hätte, die beständig arbeitet. Ich habe auch deinen Vatergekannt, weißt du? Er war ein guter Mann … ach! … dieser Husten …«
»Aber warum nehmt Ihr nicht etwas dagegen, Zio Pascale?«, fragte Lixia, von Mitleid erfüllt über den Zustand des Alten.
»Was sollte ich wohl nehmen? Ich habe es mit der Medaille von Santu Pascale versucht, mit gekochten Königskerzen, mit Pflastern … alles habe ich versucht … aber willst du wissen, was es ist? Es ist der Tod.«
»Wen habt Ihr denn bei Euch?«, wiederholte der Student und setzte sich auf der Mauer zurecht. Der alte Besenbinder fing an, ihn zu interessieren; er kam ihm vor wie der echte Vertreter einer ihm unbekannten Rasse. Und doch – wie oft hatte er, bevor er zur Universität ging und während der Ferien, den alten Mann gesehen und hundert andere Angehörige jener, der menschlichen Gesellschaft unbekannten Rasse, die selbst nichts davon weiß, dass auch sie dazu gehört?
»Seit wie vielen Jahren seid Ihr schon Besenbinder?«
»Seit vielen, vielen Jahren, habe ich dir gesagt«, erwiderte der Alte mit einer Bewegung, die eine unabsehbare Ferne bedeutete. »Ich war zehn Jahre alt, als ich zuerst nach Nuoro ging, Besen verkaufen; auch mein Vater war Besenbinder, und auch mein Sohn. Einmal, als er müde war, immer und immer zu Fuß zu gehen, warf er einem Pferde auf der Weide einen Strick um den Hals und setzte sich darauf. Und da kamen zwei Carabinieri, die einen Banditen suchten: Du hast das Pferd gestohlen, sagten sie. Er widersprach. Aber die zwei Carabinieri, die vielleicht Angst hatten, dem Banditen zu begegnen, fassten meinen Sohn, banden ihn und führten ihn ins Gefängnis.«
»Ihr seid doch schlau, Zio Pascale!«, bemerkte der Student; aber der Alte hustete, dass ihm die Augen aus dem Kopfe traten, und hörte die Bemerkung nicht. Als der Anfall vorüber war, sprach Zio Pascale weiter, und wie er so dastand, mit der Sichel in der Hand, erschien er wie das Abbild eines elenden Todes.
»Ach, San Francesco mio, was für ein entsetzlicher Husten! Ja, und mein Sohn starb im Gefängnis und hinterließ mir seine beiden Kinder.«
»War er denn verheiratet?«
»Er war Witwer. Ja, zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen. Der Junge ging mit einem umherziehenden Schlosser fort und ich sah ihn nie wieder. Das Mädchen, Maria Annicca, trat bei dem Bürgermeister in Dienst. Kennst du Marcu Virdis … he, kennst du ihn, den Geldsack?«
»Eh, er ist mein Onkel! Nun?«
»Nun, Geduld! Das Mädchen war das Licht meiner Augen. Aber sie war leichtsinnig. Sie bekam einen Sohn von ihrem Herrn. Hatte sie es denn nicht gewusst, dass Marcus Virdis ein steinreicher Mann war, der sie nie heiraten würde? Ach, San Francesco mio! Der Herr wird ihr verziehen haben, wie ich ihr verzieh.«
»Wo ist sie denn jetzt? Ach … mir scheint, ich habe schon davon gehört! Sie ist gestorben, nicht wahr?«
»Gestorben.«
»Und ihr Sohn?«
»Ist bei mir, aber er ist sehr böse, ein kleiner Teufel! Mag nicht arbeiten, mir nicht helfen, nichts. Was wird aus ihm werden, ohne Eltern, arm und ganz allein?«
»Zio Pascale«, sagte der Student begeistert, »darum macht Euch keine Sorgen! Die Welt geht vorwärts. Drüben über dem Meer, auf dem Festland wollen die Menschen alle gleich werden; in zwanzig, dreißig Jahren, vielleicht noch eher, wird es keine Armen und Reichen mehr geben; das heißt, alle werden arbeiten und alle werden bequem zu leben haben. Auch hier in Sardinien wird das kommen. Sorgt Euch also nicht um Euren Enkel; wenn er alt sein wird, wird er sich nicht so elend dahinschleppen durch die öde Heide, in Gefahr, einsam zu sterben.«
Der Alte hörte zu und schüttelte traurig den Kopf.
»Ach! Glaubt es nur«, fuhr der Student noch eifriger fort. »Die Zeiten ändern sich. In der ganzen Welt, und also auch hier in Sardinien, wird es keine Armen mehr geben, keine Übeltäter, keine Schufte wie mein Onkel Virdis und keine Carabinieri. Hier, wo jetzt nur Heide wächst, werden dann Weinberge und Obstgärten sein …«
»Ach!«, sagte der alte Besenbinder erschrocken, »die Weinberge und die Gärten gehören doch den Reichen, die Armen werden nie etwas haben, und dann also noch nicht einmal mehr Besensträucher … Ach, San Francesco mio!«
Der Student breitete die Arme aus und blickte verzweifelt gen Himmel. Sie können es nicht einmal verstehen, sie sind gar keine Menschen …
»Schenkst du mir etwas?«, fragte der Besenbinder endlich.
Doch seinen Grundsätzen getreu, weigerte der Student ihm ein Almosen.
»Der Bursche ist verrückt!«, dachte der Alte.
Textnachweis
Aus: Die Sonntags-Zeit. Belletristische Beilage zu No 288 der Wiener Tageszeitung ›Die Zeit‹, 19. Juli 1903, S. 1–2. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)
Übersetzung
Aus dem Italienischen; Übersetzer*in unbekannt.
Titelbild
Detail aus: Tina Blau, Steine, Erde, Gras (Studie zum Gemälde An der Friedhofsmauer)
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