Novelle von L. Andro (1878–1934)

Der Nervenarzt wollte eben in seine Privatwohnung hinübergehen, als ihm das Stubenmädchen meldete, im Wartezimmer sei noch eine Dame, die gebeten habe, zum Schlusse daranzukommen, da ihr Fall ein besonders komplizierter sei und viel Zeit erfordere.
Der Arzt zuckte ärgerlich die Schultern. Einmal, weil jeder Patient seinen Fall für besonders schwierig hielt, dann aber auch, weil er sich darauf gefreut hatte, den Tee mit seiner Frau und seinen vielbeschäftigten halberwachsenen Kindern zu nehmen. Es war die einzige Stunde des Tages, in der er sie sah und aus der er, schweigsam ihren Gesprächen lauschend, Kraft für vergangene und zukünftige Strapazen holte. Allein die Pflicht ging vor.
Die Frau, die eintrat, war jung, schlank und in Trauer gekleidet. Im Arm hielt sie, eng an sich gepresst, ein flaches, kreisrundes Päckchen. Auffallend an ihr waren die schöne falbe Mähne und die rötlichen, stark gezeichneten Brauen, die über der Nasenwurzel zusammenstießen. »Kriegswitwe, die sich in ihren Zustand nicht finden kann«, diagnostizierte der Arzt für sich, während er in der sachlich-väterlichen Art, die zu seinem Berufe gehörte, die ersten Fragen an sie stellte. Er hatte sich nicht getäuscht. Ihr Mann war im ersten Kriegsjahre gefallen. Mit Erleichterung merkte er, dass sie zu jenen gehörte, die, nachdem die ersten Hemmungen überwunden sind, reden wollen, reden müssen. Er sah verstohlen auf die Uhr. Mit dieser Art, die nicht erst auf langen Umwegen zum Abreagieren gebracht werden musste, wurde man rasch fertig.
Sie war nur ein halbes Jahr verheiratet gewesen, als der Krieg ausbrach. »Wir hatten jahrelang aufeinander warten müssen, mein Mann und ich«, erzählte sie, »und waren viel getrennt gewesen. Dann ermöglichte eine Erbschaft uns die Heirat. Wir waren sehr glücklich – sehr.«
Der Arzt dachte bei sich, dass sie hübsch sein müsste, wenn sie besser aussähe als jetzt, wo die Backenknochen allzu sehr hervortraten.
»Mein Mann machte erst kurze Zeit Garnisonsdienst, und schon das war schlimm, weil wir stündlich vor der Trennung zittern mussten. Endlich musste auch er hinaus. Am Abend, bevor er fortging, brachte er mir etwas mit. ›Damit du doch etwas von mir hast, wenn ich fort bin‹, sagte er.« Sie öffnete das kreisrunde Paket, das sie bis dahin krampfhaft festgehalten hatte. Der Arzt sah mit Erstaunen eine Grammophonplatte darin liegen.
»Er war bei einer Grammophongesellschaft gewesen und hatte die Platte für mich besprochen«, fuhr die Frau fort. »Der Einfall erschien mir zuerst absurd. Das Grammophon war das vielbespöttelte Hochzeitsgeschenk einer Tante gewesen, wir mochten es nicht leiden und hatten es gleich auf den Boden geschafft. Aber als mein Mann fort war, holte ich es in mein Zimmer. Lange wagte ich es nicht, die Platte zum Sprechen zu bringen. Aber an dem Tage, an dem seine erste Feldpostkarte kam, als es Abend wurde und die Bangigkeit immer größer, tat ich es doch. Da hörte ich seine Stimme …«
Sie stockte. »Weiter«, sagte der Arzt.
»Diese Stimme sagte liebe, liebe Worte. Ich war unbeschreiblich glücklich und unbeschreiblich traurig. Ich getraute mich aber nicht, mir dieses schmerzhafte Glück oft zu gönnen. Bis eines Tages die Nachricht kam, dass er gefallen war …«
Die Stimme versagte ihr. Der Arzt nahm ihre zuckende Hand in die seine, redete freundlich einlullend und fragte schließlich: »Sie blieben in sorgenvollen Verhältnissen zurück?«
»Eigentlich nicht. Die Zinsen der kleinen Erbschaft konnten für meine bescheidenen Bedürfnisse gerade ausreichen. Das war vielleicht nicht einmal gut, denn nun hatte ich an nichts zu denken als an meinen Verlust. Ich stand ganz allein, an ihn hatte ich mich ganz und gar hingegeben. Da nahm ich meine Zuflucht zum Grammophon, erst zögernd, dann immer häufiger. Seine Stimme, die ich hören konnte, so oft ich wollte, täuschte mir seine Gegenwart vor, täuschte mir Liebesstunden vor. Sehr bald verspann ich mich ganz und gar hinein. Die paar Menschen, die ich kannte, fanden, ich sei sonderbar geworden. Ich konnte ihnen ja auch nicht erklären, was ich jeden Tag neu erlebte.
Das ging monatelang so fort«, fuhr die Frau fort, »jahrelang. Dann kam aber allmählich ein Unbehagen über mich, so etwas wie Überdruss.
Ich sehnte mich immer noch nach seiner Stimme, aber ich hätte gern andre Worte vernommen. Ich kannte jede Einzelheit des Klanges schon zu genau, wusste, wo er undeutlich wurde, wo die Maschine schnarrte. Aber immer und unabänderlich kam das Gleiche, und ein Gefühl der Abneigung wurde immer stärker in mir. Ich hätte ja nun bloß das Grammophon nicht mehr aufzuziehen gebraucht, nicht wahr? Aber es war wie ein fremder befehlshaberischer Wille über mir, es zu tun, auch wenn ich mir noch so fest vorgenommen hatte, es sein zu lassen. Ich wurde immer erbitterter gegen ihn, der ihn mir aufzwang. Verschiedenes Halbempfundene, längst Vergessene kam mir wieder zum Bewusstsein, zum Beispiel …«
»Zum Beispiel?«, fragte der Arzt.
»Es lässt sich schwer ausdrücken. Vieles, was ich früher auch schon gefühlt hatte, was aber wie unter einem Schleier gelegen war. Die Erinnerung an Gewohnheiten von ihm, die ich nicht sehr liebte, auch dass mein Mann viel älter war als ich und mir seine Zärtlichkeit oft ungestüm aufgedrängt hatte. Und dass ich einmal schon in unsrer Verlobungszeit ihm sein Wort hatte zurückgeben wollen, ich weiß selbst nicht recht, warum. Das Grammophon hatte einen großen, bläulich lackierten Trichter, und schließlich war mir’s, als sei ich einem Ungeheuer mit einem riesigen blauen Maul verfallen, als sperre es seinen Rachen nach mir auf und wolle mich verschlingen.«
»Idée fixe«, nickte der Arzt. »Nur weiter.«
»Einmal versuchte ich eine kleine Reise. Doch kaum war ich fort, so trieb es mich unwiderstehlich wieder heim. Auf der Rückfahrt im Coupé lernte ich einen jungen Mann kennen; er nahm sich meiner freundschaftlich an, wir sahen uns wieder. Es dauerte nicht lange, so konnte ich merken, dass er mich liebte, und auch ich fühlte Neigung für ihn. Nun wäre es wohl das Natürlichste gewesen, wenn ich mich von dem bösen Zauber des andern befreit hätte, allein ich vermochte es nicht. Sooft ich die Liebesworte des Lebenden gehört hatte, schlich ich ans Grammophon und lauschte denen des Toten – diesen entsetzlichen Worten, die erst der Maschine bedurften, die mich bis in meine Träume verfolgten. Die Heiratspläne meines Freundes wies ich von mir. Ich bildete mir ein, der erste müsse noch am Leben sein, irgendwo verschollen, und eines Tages wieder auftauchen – dergleichen kommt ja vor. Ich suchte seine Kameraden auf – sie hatten ihn mit einem Kopfschuss fallen gesehen, ordnungsgemäß identifiziert, in Russland irgendwo begraben. Ein Zweifel war gar nicht möglich, dennoch zweifelte ich – ich kann nur nicht recht sagen, woran, vielleicht nicht so sehr an seinem leiblichen Tode als an seinem andern. Ich habe es nicht gewagt, meinen Freund zu heiraten, aber ich habe mich nicht einmal getraut, ihm meine Liebe zu schenken – immer, wenn er mich in seine Arme nehmen wollte, hörte ich die Stimme des andern, nicht die wirkliche, sondern die furchtbare Grammophonstimme mit den ewig gleichen Worten, und es war mir, als ob man mir Nägel ins Gehirn triebe.«
»Wie kommt es«, fragte der Arzt, »dass Sie es nie versucht haben, sich der Grammophonplatte zu entledigen?«
»Ich habe es ja versucht! Ich habe sie vor mir selbst versteckt, sie in den Keller getragen und auf den Boden – immer wieder aber zwang mich etwas, sie in mein Schlafzimmer zu holen. Ich habe mit dem Hammer davor gestanden, bereit, sie zu zerschlagen – da war es mir, als ob er auf meines Mannes Kopf niederfallen würde, und ich konnte nicht zuschlagen.«
»Der Fall ist so einfach, meine liebe gnädige Frau«, sagte der Arzt und legte seine braune, schlanke Hand auf die Platte, »so unendlich einfach, dass ich mich wundere, wie Sie selbst nicht auf die Lösung verfallen. Das Ding bleibt hier bei mir, da ist es gut aufgehoben. Das, was Sie seine Zauberkraft nennen und was in Wirklichkeit nichts ist als die sinnlich entzündende Kraft einer Erinnerung, wird in dem Augenblick aufhören, in dem Sie seinem Einfluss entzogen sind. Wenn ich Ihnen aber etwas raten darf – Sie sprachen von einem Freund?«
Die Frau errötete. »Einem mindestens, dem an meiner Liebe liegt.«
»Wenn Sie auf mich hören wollen – schenken Sie ihm diese Liebe. Sie sind eine erotisch sehr lebhaft veranlagte Natur, das plötzliche Herausgerissenwerden aus junger Ehe, die lange Einsamkeit, der eingebildete Kontakt mit einem Toten haben Sie zermürbt. Sie werden jetzt so leben, wie ich’s Ihnen vorschreibe, und in ein paar Wochen wieder bei mir erscheinen. Ich werde dann hoffentlich nichts zu konstatieren haben, als dass sie eine gesunde und glückliche Frau geworden sind.«
Der Arzt verordnete ihr eine leichte Kaltwasserkur und Bewegung im Freien, mehr, damit sie das Gefühl hatte, nicht umsonst beim Arzt gewesen zu sein, als weil er es für nötig hielt. In Wirklichkeit, das wusste er, war sie schon gesund, weil sie von ihrem bösen Fetisch befreit worden war. Sie warf noch einen letzten furchtsamen Blick auf ihn, der still und harmlos im Panzer seiner geheimnisreichen Zeichen auf dem Schreibtisch lag und ihr nichts mehr anhaben konnte. Dann wandte sie sich zum Gehen, hoch aufgerichtet, befreit und jetzt mit einem kleinen spöttischen Lächeln für die kreisrunde Zauberscheibe, von der sie sich nun erlöst fühlte.
Der Arzt ging hinüber in sein Wohnzimmer. Die Teestunde war längst vorüber, die Kinder an ihre Aufgaben gegangen, aber am Tisch saß noch immer wartend die Frau des Arztes, die silberne Kanne vor sich, die mit einer grünseidenen Teepuppe bedeckt war. »Das hat heute lang gedauert«, sagte sie freundlich und goss ihm ein. »Du bist wohl recht müde?«
Der Arzt nickte schweigend und in Gedanken. Es gab ihr kein Wort für ihr Warten und dafür, dass sie ihn mit sanften Händen umsorgte, alles nach seinen Wünschen zurecht machend. Die Frau beugte sich auf ihre Arbeit herab und dachte: Niemals ein gutes Wort, nie einen freundlichen Blick. Er merkt die Mühe nicht, die ich aufwende, um Behagen rings um mich zu verbreiten, er sieht die Blume auf dem Tisch nicht, die so schön im Licht der Lampe glänzt, merkt nicht die neue Haartracht, die meine grauen Haare verbergen soll, und nicht, wie ich allein bin, wie die Jahre vergehen und ich mich nach einem kleinen lieben Wort sehne. Es braucht so wenig, ein bisschen Glück zu schenken! Es gibt Tage, an denen man es haben muss, weil sie sonst zu grau sind und mit den gewesenen und noch kommenden zu einem einzigen trüben Nebel verfließen. Das begreift er nicht. In der Seele seiner Patienten bemerkt er die feinste Einzelheit. Dass ich da neben ihm sitze und still verblühe, das sieht er nicht.
»Haben die Kinder nicht einmal ein Grammophon gehabt?«, fragte der Arzt aus seinen Gedanken heraus.
»Jawohl«, sagte sie erstaunt. »Aber sie mochten es so wenig leiden wie wir, da habe ich es in die Rumpelkammer getan.«
»Wenn du es heraussuchen lassen könntest«, bat der Arzt. »Ich möchte ein Experiment damit machen.«
Die Frau gab dem Mädchen den Auftrag. Der Arzt trank seinen Tee zu Ende und überlegte, dass er noch ein paar Minuten Zeit hatte, ehe er zu einem Konsilium musste. Er nickte seiner Frau zu und verließ schweigend das Zimmer.
Drüben bei ihm stand schon das Grammophon, etwas verstaubt, aber intakt. Es hatte gleichfalls einen blaulackierten Trichter, darüber musste er lächeln. Er schraubte die Platte ein, die auf seinem Schreibtisch lag. Die Befürchtung, dass sie von einer andern Marke sein und nicht funktionieren würde, hielt nicht stand, denn alsbald ertönte das charakteristische Schnarren und dann sagte eine Männerstimme leise aber deutlich: »Mein Liebling, mein Einziges, ich will, dass du immer an mich denkst, du sollst nicht traurig sein, ich bleibe immer um dich.« Die Stimme sprach weiter, zögernd zuerst, befangen, allmählich aber sich immer mehr erwärmend. Sie sprach Liebesworte, immer heißere, und geriet schließlich ganz in Wünsche, Erinnerungen, Kosenamen, die aus gemeinsamem Erleben geschöpft sein mussten. »Unglaublich!«, dachte der Arzt. »Da hat der Mann gestanden und solche Sachen zu seiner Frau gesagt, die gar nicht dabei war, während zwei Kerle vor ihm herumkurbelten!« Er unterbrauch die Vorführung und schaltete die Platte aus. Der Fall war für ihn abgeschlossen. Wenn alle so rasch zu kurieren wären!, dachte der Arzt, nahm Hut und Rock und beschäftigte sich im Gehen mit dem viel komplizierteren Fall des maniakalischen Rumänen, der Hilfe von ihm erhoffte.
Es war schon Abend, und man konnte nicht viel mehr sehen, aber am Fenster stand doch die Frau des Arztes und sah der dunkeln Gestalt ihres Gatten nach. Wie immer ging sie hinüber in sein Ordinationszimmer, nachzusehen, ob Ordnung zu schaffen wäre, und wohl auch, um noch ein wenig von seiner Atmosphäre einzuatmen. Das Grammophon war noch da, und die Platte lag daneben. Mechanisch schaltete die Frau sie ein. Das Schnarren begann, und eine Männerstimme fing zu sprechen an. Die Frau lauschte. Sie hörte Liebesworte, nach denen sie sich immer gesehnt hatte. Worte eines Menschen, der besaß, der aber seines Besitzes nicht müde geworden war, sondern in zitternder Angst danach strebte, sich ihn zu erhalten. Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, ob nicht ein Schauspieler hier etwas aus einer Rolle spräche, aber diese Stimme war nicht kunstvoll geschult, sie sprach einen leisen, nicht eben schönen Dialekt, sie stockte oft und suchte nach Worten, die beinahe einfältig klangen. Dies, das fühlte sie, war Wirklichkeit. Sie zerbrach sich den Kopf nicht darüber, wie die Platte hiehergekommen sein mochte; wichtig war nur, dass sie hörte, was sie selber brauchte. Sie lauschte mit heißen Wangen, und als alles zu Ende war, schaltete sie die Platte noch einmal ein.
Sie versuchte sich vorzustellen, dass ihr Mann diese Worte zu ihr sprach, aber diese Illusion wollte sich nicht zusammenballen lassen, sie zerstob sofort. Dennoch fühlte die Frau mit einer heißen Leidenschaftlichkeit, die sie bis dahin nicht gekannt hatte, dass sie noch einmal Wahrheit werden müssten, ehe das unerbittliche Alter kam. Sie dachte an einen Mann – und zum ersten Mal in seiner Abwesenheit dachte sie bewusst an ihn, der ihr in Gesellschaft zuweilen begegnete und dessen Blicken anzumerken war, dass er um ihre Einsamkeit wusste. »Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen«, baten Wort und Blick. Er hatte ihr nichts gegolten bis jetzt. Aber nun kam es ihr in den Sinn, dass er sie liebte, dass er ihr vielleicht so heiß aufreizende Worte sagen könnte wie die Stimme im Grammophon. Etwas war in ihr geweckt, etwas Wildes, Verzweifeltes, als stünde sie vor einem Abschied und müsse noch ein letztes Glück genießen. Einen Augenblick zögerte sie noch. Der leichte Duft von Seife, Desinfektionsmitteln und Zigarettenrauch, den ihr Mann ausstrahlte, war noch im Zimmer. Dann sah sie seinen grenzenlos gleichgültigen Blick über sich hinweggleiten, sah den blauen Trichter des Grammophons, in dem zum dritten Mal die Worte in einem leisen Schnarren verklangen. Sie sah den andern vor sich, den sie rufen durfte, wenn sein Augenblick gekommen war.
Die Frau des Arztes ging ans Telefon.
Textnachweis
Aus: Neues Wiener Tagblatt, 15. Mai 1921, S. 19–21. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)
Titelbild
Detail aus: Anita Rée, Bildnis Dr. Malte Wagner, 1920
Kommentar verfassen