Zwei Gläser

von Marie Eugenie delle Grazie (1864–1931)

Ein wolkenverhangener Sonntag ……

Müd und versonnen komm’ ich von einem Friedhof heim – greife, müd und versonnen, eines der hochstängeligen Gläser aus dem Spind, die Blumen darin zu kühlen, die ich mir von dort draußen heimgebracht. Greife hinein und – fühle plötzlich meine Hand herabsinken: von einem Schauer durchfröstelt, der zum ersten Male mehr ist als ein flüchtiges Erinnern, mehr als die gleichgültige Gelassenheit, mit der ich bis heute immer eines dieser beiden Gläser herausgeholt, darin die Blumen eines Grabes zu kühlen. So unsagbar mehr, dass dieses Glas mit meiner Hand zu beben beginnt und leis’ an das andere schlagend, einen Klang voll unirdischer Zartheit weckt. Der Klang aber das Besinnen auf Stunden und Tage, deren wirklicher Inhalt mir erst heute aufleuchtet, wie damals der goldperlende Asti in diesen Gläsern. Nach vierzig Jahren erst heute! So undankbar kann die Jugend sein. Nun aber –

Und wie schwindelnd greif’ ich um mich. Muss das Glas niederstellen und mich selbst setzen, dem Flug der Bilder standzuhalten, die wie aus tiefstem Dämmer plötzlich an mir vorübergleiten …… Der unsagbaren Erschütterung, die wie ein Sturm über mich hingeht. Diesem späten Ergreifen alles dessen, was mir mit einem Male die Seele zu füllen beginnt, bis an des Glases Rand.

Und dann ist es wie in einem Traum:

Ein hohes, helles Zimmer gegen Osten. Tritt man ans Fenster, blaut die Donau herein und über die Bogen einer Brücke winkt das Grün des Praters herüber. Oder der Schnee liegt zwischen den starren Gipfeln und dann hat die stille Stube noch einen Reiz mehr, bleiben Blick und Aufmerksamkeit nur ganz ihr zugewandt, so schmucklos sie auch ist.

Aber der Harzer Roller am Fenster scheint dann noch heller zu singen. Die unzähligen Bücher an den Wänden verleiten zu einem neugierigen Griff … Das alte Spinett in der Ecke scheint einen wunderlichen Klang von sich zu geben. Als säße die Einsamkeit selbst dort und griffe von Zeit zu Zeit einen verträumten Akkord. Tritt man aber näher, ist es die »Mondscheinsonate«, die dort aufgeschlagen liegt. Und dann ist es immer dasselbe nachsichtig spöttelnde Lächeln, das zwei junge Mädchenlippen umspielt. Derselbe wie verschämt sich verhüllende Blick in zwei sonst so klare Greisenaugen:

»Wenn ich – wenn ich Zeit habe, spiel’ ich noch zuweilen.«

Und dann tritt die alte Pauline ein und macht ihren Gebieter ganz verstummen. Denn er ist »wie Simson in ihre Gewalt gekommen«, wie er oft humorvoll sagt, wenn er auch nicht weiß, »wie« und »warum«. Oder vielleicht eben bloß deshalb, weil er noch immer einen solch keuschen Respekt hat vor allem Weiblichen. Ob es nun eine Madonnenstirn hat oder nicht. Gerade nur so viel Mut ist ihm geblieben, uns selbst die beiden hochstengeligen Gläser vorzusetzen und dazu die kleinen Biskotten, die eine verdächtige Ähnlichkeit mit jenen haben, die der Krämer unten, auf Papier geklebt, feilhält. Was der alte Herr ganz gewiss so wenig weiß wie manches andere, was seine Pauline tut oder – nicht tut. Trotz seiner Befehle.

Nun aber ist sie wieder draußen und mit leicht bebender Hand – einer fast frauenhaft zarten Hand – hebt der greise Gelehrte die Flasche, den perlenden Asti in die Gläser seiner Freunde gleiten zu lassen. Dabei immer dieselben rührenden Worte:

»Es ist kein Champagner – nur Schaumwein. Und auch er ein Geschenk. Aber ich wollte ihn nur mit Ihnen trinken. So hab’ ich ihn – hab’ ich ihn aufgespart.«

Wie seltsam, dass ich erst heute das leise Vibrieren der Stimme höre, die diese Worte sprach. Das traumhaft-sehnsüchtige Aufleuchten der schönen Greisenaugen bemerke … die leis’ zuckende Wehmut um die Lippen, die mich, während unsere Gläser zu dritt aneinanderklingen, in der Sprache eines verschämten Troubadours feiern. Ja, wie seltsam, dass ich das alles nicht verstand, mehr als einmal belächelt, es so selbstverständlich hingenommen als – vergessen habe – damals.

Er aber:

Unsere Kämpfe, unsere Pläne, unsere Zukunft machte er zu der seinen. Sie waren die letzte Arbeit seines Lebens. Und schieden wir – wie zart nahm er meine Hand; mit welcher Andacht hielt er sie in der seinen!

»Werden Sie auch wiederkommen. Man wird so leicht vergessen, wenn man alt ist.«

Alt, o – wie ich das verstand, in dieser Stube! Nichts anderes aus seinen Worten hörte wie nur dieses – »alt«. Und, kaum vor der Türe, mich immer mit demselben Aufatmen der eigenen Jugend besann. So sehr ich dem alten Mann auch sonst zugetan war. Als wäre etwas von dem spinnwehgrauen Zauber der Einsamkeit da drinnen an mir hängen geblieben und bekäme heimlich Gewalt über mich. O, fort, nur fort … Er aber – –

Noch hatte unser Fuß nicht die letzte Treppe berührt, und schon geisterten uns die Töne seines Spinetts nach. Die – »Mondscheinsonate«. Bis zu uns hinunterwebend. Diese gleichsam alles in dieselbe einspinnenden Triolen. Als strecke sich eine unsichtbare Hand nach uns, etwas festzuhalten an uns oder in uns. Und dann lief ich fast zu dem alten Tor hinaus:

»Licht, Luft, Jugend!«

»Er ist ja ein ganz außerordentlicher Mensch«, pflegte ich dann wohl zu sagen. »Aber zwischen ihm und mir liegt es wie ein ganzes Jahrhundert.«

Meist schwieg mein Freund. Ihm ging wohl etwas näher an dem alten Mann. Viel näher, als er damals sagen wollte und konnte, wie ich auch erst mit einem Mal begreife und in einem fast visionären Schauen. Als wir aber eines Tages wieder einmal um die Ecke des Hauses waren, meinte er halb nachdenklich, halb humorvoll:

»Nur eines möchte ich wissen: ob der alte Herr schon immer diese Gläser gehabt hat oder –«

Das Geklingel der Pferdebahn, die gleich um die Ecke hielt und die wir besteigen mussten, ließ mir diese Worte verhallen. Aber ich glaube, dass ich sie auch sonst nicht weiter beachtet hätte. Und dann – wer Wein anbot, musste wohl auch die nötigen Gläser dazu stellen. Was war dabei? So wenig gab meiner Jugend zu denken, was einem alten Herzen hinter ihr ein schmerzhaftes Erleben war.

Oft aber kam er auch zu uns, und es war seltsam, welche Tage er sich meist wählte oder besser gesagt, welches Wetter. Einen Schneesturm oder ein Gewitter, triefende Nebel oder brütende Sommerhitze. Vorsicht und Überlegung scheinen diesen Besuchen nie vorangegangen zu sein. Saß er aber dann zwischen uns, taten sich die großen Blauaugen immer mit einem Blick auf, als öffneten sich plötzlich zwei wunderbare Blumen, die weiß Gott in welchem Wald bisher Zeit und Leben verträumt. Und mit diesem Blick sah er mich an – keuschester Innigkeit voll, zärtlicher Sorge beflissen. Ich aber … Ach, man kann ein Dichter sein, und doch an dem Tiefsten und Rührendsten vorübergehen, das einem das Leben in den Weg stellt, ohne es auch nur zu bemerken. Solange man überreich ist durch die Jugend. Befremdet hat mich dieser Blick mehr als einmal – das weiß ich noch heute. Wenn ich auch heute erst weiß, woher ihm dieser unirdische Glanz kam: aus einem Herzen, das ganz mein eigen war, ob ich es auch so wenig wusste als – er selbst. – Dann schied mich eine lange Reise von ihm und dann –

Ein Büschelchen süß duftender Veilchen sandte er mir durch unseren gemeinsamen Freund, als ich wieder daheim war. Als Zeichen seines Gedenkens. Aber diese Veilchen hatten schon an seinem – Krankenlager geblüht und mit ihrer Sendung verband er die Bitte, ihn »nicht zu besuchen, um ihn in einem besseren Andenken zu haben«, wenn er sterben müsse. Wenige Tage später war er tot.

Ich weiß nicht mehr, was mich hinderte, zu seiner Leiche zu gehen. Und so weiß ich noch heute nicht, wo ich sein Grab zu suchen hätte, auf dem trostlos weiten Leichenfelde dieser Stadt.

Wieder einige Tage später aber kam die alte Pauline und stellte plötzlich die beiden Champagnerkelche auf unseren Tisch.

»Ich musst’ es dem Herrn versprechen, ihnen die selbst zu bringen. Zur – zur Erinnerung.« Und dann, unter einem Strom von Tränen:

»Am Abend vor seinem Tod hat er mir das aufgetragen.«

Geweint habe ich auch damals, herzlich und doch besonnen, wie man um einen lieben alten Freund eben weint, dessen Ende an sich durchaus nichts Überraschendes ist. Und dann hab’ ich die beiden hochstängeligen Gläser in den Schrank gestellt und sie dort vergessen, bis –

Ein wolkenverhangener Sonntag war es und ich kam von einem Friedhof heim. Von einem Grabe, darauf die ersten Blumen blühten. Damals hob ich eines der Gläser zum ersten Male wieder aus dem Spind, die tiefdunklen Violen darin zu kühlen, die ich von einem Grabe heimgetragen. Dem Grabe dessen, der aus einem dieser Kelche getrunken – damals, als wir beide noch jung waren.

Aber ich dachte nichts dabei. Bis heute. Nichts. Bis dieser jähe Schauer mir plötzlich die Hand herabgleiten ließ, die wieder nach jenem Glase griff, die Blumen eines Grabes darin zu kühlen. Und mein Gedenken von diesem Grab plötzlich nach einem irrte, das ich nie gesehen, um gleich jäh zu erkennen, woran ich vierzig Jahre lang nicht gedacht, was mir erst heute ganz rührende Gewissheit wurde; über die Nachdenksamkeit der eigenen Jahre hinweg und dieses Glas, das eine bebende Hand einst mit goldperlendem Asti bis an den Rand gefüllt für einen, der auch nicht mehr ist –

Wann kommt es an das zweite Glas? Das Glas, aus dem ich getrunken? Und welches wird sein Schicksal sein? Die Blumen meines Grabes zu kühlen oder wieder mit perlendem Asti gefüllt zu werden, bis an den Rand? Und für – wen?

Mög’ es eine Hand sein, so keusch und entsagungsvoller Güte reich wie jene, die zuerst diese Gläser gefüllt.


Textnachweis
Aus: Reichspost, 13. August 1924, S. 1–2. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Boznańska, Stilleben mit Wecker, um 1912

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