Erben

von Charlotte Knoeckel (1879–1923)

Als Marie Rath aus dem Ermattungsschlummer, in welchen sie stets verfiel, nachdem sie aus dem Verbandzimmer in ihr Bett getragen worden war, erwachte, begegneten ihre sich öffnenden Augen dem ängstlich forschenden Blick ihrer Freundin Minna.

»Was ist?«, fragte sie und fasste die sich rasch zur Seite Wendende am Arm.

»Nichts«, sagte die ohne aufzuschauen. »Gar nichts. Ich wollte nur sehen, ob du noch schliefest.«

»Und als du mich so liegen sahst, da … da … dachtest du – – –«

»Nichts.«

»Nichts!«, wiederholte die Marie und schüttelte den Kopf. »Nichts!« Sie versuchte sich aufzurichten; aber ihre Kräfte waren so völlig aufgezehrt, dass sie sogleich wieder in die Kissen zurücksank.

Eine Sekunde schloss sie die Augen. Dann sagte sie: »Gib mir den Spiegel, Minna.«

»Ich weiß nicht, wo er ist!«

»In meiner Schublade, hier im Nachtschränkchen.«

Die Todkranke streckte die abgezehrte Hand aus, und Minna öffnete die Schublade.

Der Spiegel lag vorne an; aber Minna schob ihn mit der Hand zurück und zog ein hübsches Taschentüchlein hervor, das mit einem großen M. bestickt war.

»Ein Taschentuch«, sagte sie. »Ach, was für ein hübsches Taschentuch! Das hab’ ich ja noch nie gesehen! Und deine Uhr! Sie ist von echtem Silber, nicht? Und deine Brosche! Dein Nähschächtelchen!« Sie legte es der Kranken aufs Bett und schloss die Schublade.

»Der Spiegel«, sagte die Marie.

»Er ist nicht darin.«

»Er muss darin sein! Zieh die Schublade heraus, dass ich selber suchen kann.«

Minna zögerte. Sie wühlte noch einmal unter den Sachen. »Ja, da ist er«, sagte sie endlich. Es war ein kleiner, in Celluloid gefasster und mit einem Celluloidgriff versehener Handspiegel. Unwillkürlich sah Minna hinein. Ihr Gesicht war frisch und rund darin und sie lächelte. »Bald werde ich wohl fortgehen dürfen von hier«, sagte sie.

»Ach, so bald nicht«, sagt die Marie und streckte die Hand nach dem Spiegel aus.

Minna reichte ihn ihr, ohne sie anzuschauen.

Eine Sekunde lang sah Marie hinein, dann ließ sie ihn auf die Bettdecke fallen.

Die Minna hatte unterdessen das hübsche Taschentüchlein betrachtet, das noch immer oben auf den Sachen der Marie in der Schublade lag. »M.«, dachte sie. »Das könnte auch Minna heißen«, und sie befühlte es zärtlich. »Wie fein der Stoff ist und so hübsch gestickt!«

Hastig schloss sie die Schublade und wandte sich zur Marie. Es wollte ihr scheinen, als ob die noch blasser geworden sei, als sie zuvor gewesen war.

»Du hättest dich nicht im Spiegel beschauen sollen«, sagte sie. »Es ist ein schlechtes Omen.«

»Ich hab’ schon Leute gesund werden sehen, die anders ausgesehen haben«, sagte Marie.

»Gewiss, gewiss.«

»Und Leute, die ausgesehen haben wie du, sind gestorben!«

»Mag sein! Aber meine Wunde ist schon geheilt. Die Narbe muss nur noch fest werden, sagt der Herr Doktor.«

»Das kenn ich, was der Herr Doktor sagt!«

»Ich hab’ es auch gesehen

»Ich hab’ auch oft gesehen, wie meine Wunde geheilt war obenauf. Aber von innen heraus ist sie dann immer wieder aufgebrochen.«

»Deine vielleicht; aber meine …« Die Minna reckte sich auf und schämte sich plötzlich und verstummte.

Über das totenblasse Gesicht hatte sich eine dunkle Röte ergossen.

Die Minna sah es, und in ihrer Verlegenheit riss sie abermals die Schublade auf und betrachtete das Taschentüchlein. »Sie stirbt ja doch bald«, dachte sie, »da könnte sie es mir schenken.« Unwillkürlich griff sie darnach.

»Schenk es mir«, sagte sie, sich zur Marie zurückwendend. »Ich war doch immer gut zu dir. Und dann hab’ ich auch ein Andenken an dich, wenn ich fortgeh’ von hier.«

»Du gehst ja noch nicht fort.«

»Heute nicht. Aber bald! Und du kannst doch nichts damit machen, solange du hier bist.«

Das Lieschen und die Paula, die am Fenster, ganz in der Nähe von den beiden, miteinander plauderten, bemerkten plötzlich, dass vom Schenken die Rede war zwischen ihnen, und kamen schnell heran.

»Schenk uns auch was«, sagten sie. »Du hast ja so viel schöne Sachen, und wenn du stirbst, kannst du sie doch nicht mitnehmen.« Sie drängten sich an Minna vorbei zum unteren Gefach des Nachtschränkchens, und Lieschen zog den Kasten, der die größten Schätze der Marie enthielt, daraus hervor. Mit ihren dünnen, gelenkigen Fingern löste sie die Schnur, schob ein paar Bänder, die ihr zuerst in die Hände kamen, beiseite und griff nach der Korallenkette, welche ihr aus einem weißen Pappschächtelchen entgegenfiel. »Schau, wie mir die gut steht«, sagte sie, indem sie ihren mageren Hals entblößte und mit der Kette umschlang.

»Schau doch!« Und sie nahm den Spiegel und betrachtete sich. Sorgfältig zog sie sich dabei ein paar blonde Löckchen in die Stirne. Dann griff sie nach einem der Bänder, machte eine Schleife, die sie sich in die Haare steckte, und fasste im nächsten Augenblick nach dem größten Schatz der Marie, einem weißen Unterrock, der mit breiter Stickerei versehen war.

»Sieh doch nur, wie mir das alles stehen würde! Ah, und besonders der Unterrock! Ich würde mein Kleid ganz hoch heben, dass alle Leute auf die Stickerei sähen! Und du …« Sie verstummte plötzlich; denn sie sah die weit aufgerissenen, dunkeln Augen der Todkranken, und sie tastete mit den Händen um sich nach der Freundin. Aber die war entflohen. Und die Minna auch. Sie saß auf dem Stuhl an ihrem Bett, den Kopf in die Kissen vergraben, und schluchzte.

Maries Lippen waren so weiß wie ihr Gesicht, und sie zuckten so seltsam krampfhaft, dass Lieschen plötzlich auch davonlief. Sie lief an der Schwester, die eben den Saal betrat, vorbei, hinaus auf den Flur und den ganzen Flur entlang bis zum Fenster, das sie öffnete.

Die Schwester betrachtete kopfschüttelnd die Unordnung auf dem Bett der Sterbenden. »Was bedeutet denn das?«, fragte sie, indem sie alles wegräumte.

»Sie … wollten mich … beerben«, sagte die Marie und lächelte. »Und sie sollen auch alles haben. Das Lieschen die Kette und die Bänder und den Unterrock! Gleich sollen sie es haben! Packen Sie’s ja nicht mehr ein! Ich will es nicht mehr sehen! – Mir aber, gelt Schwester, mir tuen Sie einen Wandschirm um das Bett. Und keine soll mehr zu mir dahinter kommen. Auch die Minna nicht. Ich will’s nicht. Ich will nicht, dass sie zuschauen, wie … wie … Ich weiß ja alles so genau! Wenn man bald sechs Jahre im Krankenhaus war wie ich …«

»Sie haben den Wandschirm nicht nötig, Marie. Sie sind keine Sterbende.«

»Ich hab mich im Spiegel gesehen, Schwester.«

»Sie wissen doch, dass der Anblick oft täuscht.«

»Der meinige nicht.«

»Auch der Ihrige.«

Die Marie lächelte zu diesen Trostworten, die sie so genau kannte, aber sie drückte der Schwester die Hand.

»Sie sind barmherzig«, sagte sie.

Die Schwester aber ging, um ihr den Willen zu tun. Sie war tief im Herzen froh, dass die Kranke selbst den Wunsch geäußert hatte. Leise umstellte sie das Bett mit dem Wandschirm, der den anderen Kranken im Saal den Anblick der Sterbenden entzog.

»Wenn es nur nicht mehr lange dauert«, sagte sie am Abend zum Arzt und erbat eine größere Dosis Morphium.

Als sie am andern Morgen in den Saal trat und hinter den Wandschirm, war das Gesicht der Marie ganz still und starr und ihre Hände kühl geworden.


Kommentar
Charlotte Knoeckel wurde 1879 in Neustadt an der Weinstraße geboren. Obwohl sie einer wohlhabenden Unternehmerfamilie entstammte, arbeitete sie als junge Frau zunächst in einer Fabrik und später als Krankenschwester. Den Fabrikjob verlor sie wegen ihrer Sympathien für die Sozialdemokratie, die auch in ihren Romanen und Erzählungen deutlich zutage treten. Vom Naturalismus Émile Zolas geprägt, schildert sie darin meist das Leben von Frauen aus den unteren sozialen Schichten. Immer wieder greift sie auch auf ihre Erfahrungen als Krankenschwester zurück, etwa im Roman „Schwester Gertrud“ (1906), der das Thema Euthanasie behandelt, oder eben hier in der Kurzgeschichte „Erben.“ Knoeckel starb 1923 im Alter von nur 44 Jahren an Tuberkulose – einer Krankheit, die sie sich vermutlich während ihrer Arbeit in der Krankenpflege zugezogen hatte.

Textnachweis
Aus: Neues Frauenleben, XVII. Jg. Heft 10, Okt. 1915, S. 238– 240. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Rozanova, Komposition mit Karten, 1915

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