von Aglaia von Enderes (1836–1883)

Niemand von allen den Leuten im Dorfe wusste zu sagen, seit wann die alte Saatkrähe in der alten Eiche, draußen am Rande des Fichtenwaldes wohne; niemand wusste zu sagen, wann sie dort zuerst gesehen worden, denn die schwarze Krähe war älter als die alten Leute vom Dorfe. Diese wussten nur, dass sie Jahr um Jahr mit jedem Frühlinge gezogen komme, dass sie einst mit einer anderen Krähe, mit einem fröhlichen, jungen Genossen ihres Volkes, dort oben in dem Astwerk der Eiche alljährlich ihr stattliches Nest bewohnt und eine Schar von kleinen krächzenden Rabenkindern großgezogen habe. – Aber dies war nun auch schon Jahre her und nun wohnte sie allein dort oben in der knorrigen Baumkrone und hütete allein ihr einsames Haus.
Die anderen Saatkrähen hatten sich in den Fichtenbäumen angesiedelt. In hellen Haufen kamen sie in den ersten schneefreien Tagen des Februar, mit dem ersten lachenden Sonnenschein in das Tal geflogen und in den dunklen Wald gesaust. Mit fröhlichem Getümmel begrüßten sie die grünen Wipfel, die geheimnisvollen Verstecke unter den Zweigen und das weite Ackerland, das sich südwärts über die Hügel dehnte.
Mit Gekrächze und Gelärme wurde die Heimat begrüßt und dann wurde zur Arbeit geschritten. Gab es da zu schaffen, zu ordnen, zu sorgen! Heimtückisch, zornmütig und rücksichtslos hatte der Wintersturm in allen den Horten und Burgen gehaust, nicht ein Nest war unberührt geblieben und überall lag am Boden zu Füßen der Fichten verwehtes und gebrochenes Trümmerwerk. Solcher Anblick genügte Jahr um Jahr, um das Volk der Krähen in Aufruhr zu bringen. Wie sollte in all dem Reisig, in all den Moosbüscheln und dürren Halmen, die da unten lagen, über Mein und Dein entschieden werden? Zornig fassten sie an, die eifrigen Bauleute, mit Krähenhast und nach Krähenart rüttelten und zerrten und zogen sie, oft zwei, oft drei an ein und demselben Zweiglein, krächzend flog jeder mit seiner Beute von dannen und trug sie auf seinen Fichtenast. Tagelang ging das so fort; unten am Boden, auf der angrenzenden Wiese, in den nächsten Büschen wurde gerungen, mit den Schnäbeln gehackt, mit den Flügeln geschlagen, oben unter den Fichtenkronen wurde gestohlen, von einem Nest zum andern getragen, fortgeholt, was sich fortholen ließ und im Entdeckungsfalle mit dem Nachbar gefochten, gekrächzt, gelärmt, dass der Wald von dem Getümmel wiederhallte.
Die alte Krähe saß indessen ruhig in ihrem stillen, einsamen Hause und ordnete darin, was es da nach Schnee und Sturm des Winters zu ordnen gab. Zuweilen hielt sie in ihrer Arbeit inne und horchte nach dem Tumulte hinüber. Einst war auch sie mitten unter den anderen, einst stritt auch sie, wie sich’s für eine echte, tapfere Saatkrähe geziemt; – aber das war lange, lange her und jetzt schlug sie sich das luftige, wirbelnde Flattern und Lärmen aus dem müden Sinn.
Von dem jungen Volke kam keiner herüber, sie zu stören. Die alte Krähe und die alte Eiche gehörten zusammen. Das wussten sie, und niemand hatte ein Recht, an das moosige Reisig und Bauwerk zu greifen, das dort oben seit vielen Jahren lag; alte Sparren, altes Fachwerk, ohne weiches Moos, ohne Flaum und Gräser, nichts als ein kahles Gebälke auf dem kahlen, knorrigen, verdorrenden Eichenbaum. »Der Wipfel ist dürr, die Äste sind morsch, das Herz ist krank an dem alten Stamm«, dachten wohl die jungen, fröhlichen, lebenslustigen Krähen und ließen den einsamen Vogel allein auf seinem einsamen, verfallenden Horste.
Indessen kamen wärmere und wärmere Tage. Der Streit im Fichtenwalde war zu Ende und in jedem Neste lagen vier, auch fünf junge Rabenvögel und krächzten und sperrten die langen Schnäbel auf, während ihre Eltern in Hast und Eile nach den Feldern und Wiesen hinausflogen und an Würmern, Käfern und Raupen eintrugen, was sich in dem Lande finden ließ.
Einige Wochen später waren die Jungen flügge; in mattschwarzen, netten Kleidern saßen sie auf dem Nestrande und schauten durch das dunkle, grüne Fichtengezweig in die helle Welt hinaus. Jetzt kam die alte Krähe von dem Eichenbaum zu Besuch in die Fichten geflogen. Sie setzte sich zu den Kindern, die mit ängstlich angezogenen Schwingen an der Schwelle ihres Hauses standen, sie plauderte und knurrte ihnen leise vor nach Krähenart, sie glitt dann sachte vom Nestrande fort und wiegte sich auf den weiten Flügeln und rief und lockte die Kleinen und endlich, wenn das jagende Volk ewig nicht kommen, nicht folgen wollte, streifte sie mit der Spitze ihrer Schwingen bald rechts, bald links an der kleinen Gesellschaft vorüber, bis diese aus dem Gleichgewicht kam, und, eiligst die Fallschirme spannend, halb erschreckt und halb erstaunt von dem Fichtenzweige und dem Neste fort, auf die Wiese hinaus flog.
Von solch’ denkwürdiger Stunde an war die alte Krähe nicht mehr so einsam wie früher. Nun hatte sie die Jungen auf die Wiesen, auf die Äcker, auf das Jagdland hinauszuführen; niemand von allen wusste ja so gut Bescheid hier wie sie, niemand, selbst die Eltern nicht, die ja doch auch noch so jung waren, wie die alte Krähe bei sich dachte. Und da ging dann der ganze, große, dunkle Flug früh am Morgen schon, vom Walde fort in das Land hinaus. Wie eine schwarze Wolke tauchte er aus dem Fichtengewipfel auf; hunderte und hunderte von glänzenden Flügeln schaukelten sich im hellen Tageslicht und eine laute, krächzende Morgenhymne tönte von einem Ende des weiten Tales zum andern wieder.
Mitten unter dem lustigen Volke war die alte Krähe; sie schlug wohl nicht so übermütig die Flügel wie die andern, sie konnte auch nicht wie sie aus voller Brust ihr Morgenlied singen, aber sie freute sich des Bewusstseins, dass sie mittue mit ihren lieben schwarzen Leuten und freute sich der Erinnerung an längstvergangene Zeit, in der sie mit ihren eigenen Kindern über Busch und Heide flog.
Dann führte sie die Jungen in das Ackerland hinab; Scholle an Scholle, und jede ein Versteck für die Feinde der Saat; hier die Höhle des nagenden Engerlings, da das Bett der schlummernden Larve, dort der Schlupfwinkel des Regenwurmes, daneben die Türe zum Hause der Feldmaus, überall Spuren und Weg und Steg des verderblichen, verwüstenden, nimmerruhenden Gelichters, das Halm um Halm zu Tode bringt. Wie die Rächer des Frevels, der sich hier unausgesetzt vollführt, langte die schwarze Schar der Saatkrähen auf dem Felde an. Voran schritt die Alte, stolz und aufrecht, im Bewusstsein ihrer Führerschaft. Purpur und violett schillerte ihr glänzend schwarzes Gefieder, hell leuchteten ihre nussbraunen Augen und stoßbereit trug sie den langen spitzen Schnabel; ober diesem hatte sie eine kahle, raue, federlose Stelle. In der Jugend war das anders; da hatte sie auch ein glattes Gesicht, wie die anderen Krähen vom Walde, aber das war jetzt längst vorbei, und die Arbeit in der Ackerkrume, das Auflesen der Würmer und Engerlinge zwischen den rauen, borstigen Stoppeln hatte die harte, raue Schwiele in das alte Saatkrähen-Gesicht gebracht.
Und nun führte sie die Jungen zur Arbeit. »Hübsch die Schollen umgedreht, frisch hineingeschaut in die Erde, dort das Mäuslein gehascht, nicht gezögert, wenn es gilt – nicht gerastet – fort und fort gesucht, geforscht! Die kranken Gräser aus dem Boden gezogen; da hockt der nagende Wurm an der Wurzel; die nackte Schnecke weggeschafft, die Heuschrecke gehascht, den Käfer, der vorübersurrt – schnell, schneller müsst ihr sein, ihr kleinen, täppischen Leute, wollt ihr dem Saatkrähenvolke Ehre machen.« – So bedeutete wohl die alte Krähe den Jungen, wenn sie vor ihnen herschritt, in dem Boden wühlte und manches Würmlein vor die Füße der kleinen Schar hinwarf, die begierig danach haschte.
Am Abend flogen sie heim, die Jungen den Fichten zu, die alte Krähe nach der Eiche hin. Glorreich stand der mächtige Baum mit seiner zackigen, laubleeren Krone im glühenden Strahl der sinkenden Abendsonne, die auf das morsche Gebälke des Krähenhorstes niederleuchtete und auf die breiten Schwingen des Vogels, der langsam von Ast zu Ast schlüpfte und sich in seinem einsamen Hause zurecht machte.
Die Jungen wurden kühner und flogen nach und nach von den Wiesen und Feldern am Walde über das Dorf hin und nach den jenseitigen Hügeln. »Haltet hübsch zusammen und bedenkt, dass ihr Saatkrähen seid«, lehrte die Alte. »Mit Raben- und Nebelkrähen pflegt nicht Gemeinschaft; die sind zornmütig und zanksüchtig und behaupten das Recht der Stärkeren unserem Volke gegenüber. Zu den Dohlen haltet euch, das sind vornehme Leute, die wohnen hoch oben unter dem Kirchendach und schauen weit in das Land hinaus.« Und zu den Dohlen hielten sich die jungen Krähen, zu den vornehmen Leuten, die vom Kirchturm herunterkamen und wieder zum Kirchturm hinaufflogen und mit denen es sich bis unter die Wolken schweben ließ.
»Morgen gibt es Wind«, sagten die Leute vom Dorfe, wenn sie das schwarze Volk hoch oben kreisen sahen.
»Bald geht es an das Wandern«, dachte die alte Krähe, wenn sie von ihrem Horste nach den Wolken und nach den schwebenden Vögeln spähte, und dann breitete sie sehnsüchtig die Flügel aus. Aber die trugen nur über die nächsten Bäume und über die Gärten des Dorfes hin, und dort saß die Krähe auf einem Zaunpfahle nieder und sah den lustigen, lachenden Menschenkindern zu, die in der Dorfgasse spielten.
»Gegen Süden geht euer Weg«, bedeutete die alte Krähe den heimkehrenden Fliegern. »Immer dem Süden zu. Viele, viele werden sich zu euch gesellen, die Dohlen vom Kirchturm, die Saatkrähen vom nächsten Walde, und vom nächsten und so fort; zu Tausenden werdet ihr über Länder und Meere schweben, ein stolzes, fröhliches, glückliches Volk. Staunend werden die Menschen nach euch schauen, die jungen und die alten. Seid vorsichtig und klug; nahe an der Erde zieht schweigend hin, doch oben unter den Wolken mögt ihr jauchzen und rufen; das ist so alte, gute Saatkrähensitte.«
Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger und kalt. Der Nordwind jagte in das Land herein und fegte die Nebelwolken das Tal entlang. Vom Kirchturm flogen die Dohlen auf und vom Fichtenwalde her die Krähen; mit Sausen und Gebrause begegneten sie sich über den Häusern des Dorfes und machten sich zur Flugordnung zurecht und riefen ihren Abschiedsruf in das Tal hinab. Höher, immer höher stiegen die schwarzen Gesellen, bald flogen sie vorwärts, bald kehrten sie krächzend und lärmend um und schwenkten im Kreise, bald schossen sie eilend weiter auf der luftigen Bahn, die Hügel entlang, an dem Walde vorüber, immer weiter und weiter, immer höher, bis ihre Stimmen immer leiser wurden, ihre Flügel immer unsichtbarer und der ganze Zug in den sinkenden Nebelwolken verschwand.
Auf dem Gipfel der Eiche aber stand die alte Krähe und spähte den Ziehenden nach. Sehnsüchtig hob und dehnte sie die Flügel und neigte sich hinaus in die Luft. Wollten sie denn diese Schwingen nicht weiter tragen, nicht vom Norden fort, nie mehr dem warmen Süden zu? Sollte sie allein, vergessen, verloren, einsam sterben, sie, die Mutter eines ganzen ungezählten Saatkrähenvolkes – sie allein? Da rauschte es und brauste es ober ihr in den Lüften, und eine ganze Wolke von schwarzen Flügeln zerteilte den Nebel und ein langes, lärmendes, fröhliches Gekrächze ging los. Eine ganze unabsehbare schwarze Schar umkreiste und umflatterte die alte Eiche und umdrängte die Krähe und jauchzte ihr vom Wandern vor und bedeutete ihr, dass sie um ihretwillen noch einmal umgekehrt auf der luftigen Reise, denn: »Eine Saatkrähe verlässt die andere nicht!« Da kam Mut und Freudigkeit in das alte müde Herz und beglückende Erinnerung, und die gab den matten Flügeln Kraft, und hinauf ging es nun mit der jubelnden Schar in die Lüfte, dem Süden zu.
»Was doch die Krähen heute für ein Gelärme vollführen«, sagten die Leute im Dorfe und sahen nach dem Fichtenwalde hinüber.
Am nächsten Morgen aber war es dort stille; die Krähen waren fort. – Und stille blieb es bis zum nächsten Frühling, wo die alte, lustige, krächzende Wirtschaft begann und wo alles wieder so war wie die vielen, vielen Jahre her. Nur die Eiche stand nicht mehr auf ihrem Platze, die hatte der Sturm einer Winternacht niedergebrochen, und die alte Krähe kam nicht mehr, um ihren Horst in dem morschen Geäste aufzusuchen, die hatte tief unten im blühenden Süden das tapfere Herz und die müden Schwingen für immer zur Ruhe gebracht.
Kommentar
Aglaia von Enderes, geb. Podhaisky, stammte aus Wien. In den 1860ern begann sie, Feuilletons und Erzählungen zu veröffentlichen und sich in der Frauenbewegung zu engagieren. Ab 1873 war sie Sekretärin des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins. Ihre erzählerischen Texte zeichnen sich oft durch detaillierte Naturschilderungen aus. Mit ihren Federzeichnungen aus der Thierwelt (1874, ein zweiter Band folgte 1876) wurde Aglaia von Enderes zu einer Pionierin der modernen Tiergeschichte in der deutschen Literatur. In diese Kategorie fällt auch Die Alte von der Eiche, die 1877 im ersten Jahrgang von Peter Roseggers Zeitschrift Heimgarten erschien.
Textnachweis
Aus: Heimgarten, 1. Jahrgang, 1877, S. 518–521. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)
Titelbild
Detail aus: Tina Blau, Frühlingstag im Prater, um 1881/82
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