von Emma Haushofer-Merk (1854–1925)

Sie hatte eine wunderbare Gestalt, diese Thekla, und sie wusste sich famos anzuziehen! Man hätte glauben können, sie käme aus einem Palast, wenn man ihr flüchtig auf der Straße begegnete. Der leichte, sichere Gang, der schlanke hohe Wuchs, das feine zartrosige Gesicht, die stolze Miene! Aber sie war keine Prinzessin und keine Millionärin – sondern erste Vorarbeiterin in dem Geschäft der Frau Willibald, der vornehmsten und teuersten Schneiderin der Stadt.
Geschmack musste sie natürlich haben, und über das, was modern und chic ist, musste sie Bescheid wissen, nachdem die Eleganz all der schönen Damen durch ihre Hände ging, gewissermaßen ihr Werk war. Aber sie verstand sich nicht bloß darauf, die Reize der andern zur Geltung zu bringen. In ihren Mußestunden entwickelte sie auch das größte Talent, selbst ein Männerherz zu bezaubern.
Er war Leutnant und an manchem Abend in der Woche holte er sie ab; natürlich in Zivil. Sie gingen dann miteinander in ein Varieté-Theater oder sie speisten in einem feinen Restaurant zu Nacht und amüsierten sich. Recht strenge Moralisten pflegten ihren Weg nicht zu kreuzen. Die meisten, die mit ihnen zusammentrafen, hatten ein warmes Wohlgefallen an dem hübschen Paar. Man wurde selbst vergnügter, wenn man diese lebenslustigen Gesichter sah. Besonders Thekla war es von den leuchtenden Augen abzulesen, wie köstlich ihr diese freien Stunden in ihrem Arbeitsleben waren, wie sie ihren Teil am Glück der Welt mit allen Fibern genoss. Sie machte sich keine Illusionen. Sie wusste, dass ihr Ottmar sie nicht heiraten konnte und dass die schöne Zeit einmal enden würde. Aber sie mochte daran nicht denken, so wenig wie an das Sterben, das ja auch unvermeidlich ist.
Drei Jahre lang war er immer gleich lieb und nett zu ihr. Dann, im Herbst, kam er seltener zum Abholen. Sie wartete ein paar Mal vergeblich auf ihn und war dann gereizt und schnippisch beim Wiedersehen. Aber es gab doch immer wieder eine reizende Versöhnung.
Manchmal wurde er plötzlich, bei der lustigsten Musik, mitten im Gespräch, nachdenklich und zerstreut. Wenn sie ihn frug: »Was hast du denn?«, dann versicherte er hastig: »O nichts, gar nichts!« und sagte ihr rasch eine Zärtlichkeit oder machte einen schlechten Witz. Aber gleich darauf starrte er wieder, geistesabwesend, in eine Ecke.
Sie fühlte wohl längst, dass das Unheil drohte. Aber sie hatte doch nicht den Mut, ihn zu fragen, ob er von ihr los sein wolle.
Und als dann der Brief kam, der so hart zu schreiben und so viel, viel härter noch zu empfangen ist, – der Abschiedsbrief, – da meinte sie doch, sie könne es nicht tragen. Sie müsse nun irgendetwas Verzweifeltes tun! Es schien ihr unmöglich, ruhig weiterzuleben; mit der rasenden Erbitterung im Herzen jeden Tag ein paar Ball-Taillen zu garnieren und all den Wünschen der eitlen Damen Rechnung zu tragen. Doch gerade im Karneval drängte die Arbeit. Wenn sie einmal im Geschäft war, blieb ihr keine Minute Zeit, über ihre verarmte Existenz nachzudenken, und wenn sie heimkam, war sie so todmüde, dass sie gleich nach ihrem einsamen Abendessen einschlief. Die jungen Mädchen in der Schneiderstube spürten allerdings Fräulein Theklas üble Laune und sie tuschelten miteinander, während sie an dem Bügelbrett im Flur zu tun hatten: »Die Geschichte mit dem Leutnant ist aus! Darum kann man ihr gar nichts mehr recht machen!« Eines Tages kam die ›Taillen-Bertha‹ ganz aufgeregt angerückt. Beim Mantelausziehen verkündete sie schon die Nachricht: »Verlobt hat sich ihr Leutnant! Mit einem Fräulein Westheimer, der Vater ist Bankier. Schwer reich soll sie sein!« »Na, da wird sie heut wieder ihre Wut an uns auslassen!«, rief die rothaarige ›Ärmel-Anna‹. »Aber ich lass es mir nicht mehr gefallen! Ich sag’ ihr’s einfach ins Gesicht: Ich kann doch nichts dafür, dass Ihr Schatz jetzt die Bankierstochter heiratet!«
Doch als Thekla dann ankam, später als sonst, sichtlich mit verweinten Augen, da beugten sie sich doch alle, verlegen und stumm, auf die ›Schoßbrettchen‹ herab, auf denen sie die Futter anhefteten oder die Fischbein-Bändchen annähten, und jede, die an die Vorarbeiterin eine Frage zu richten hatte, sprach heute auffallend sanft und bescheiden, wie eingeschüchtert von diesem blassen Gesicht mit den rotgeränderten Lidern. Thekla schien der vollendeten Tatsache gegenüber ihre Ruhe und Kraft wiederzufinden. »Nun ist’s einmal zu Ende, und alles Jammern nützt nichts mehr«, sagte sie sich mit dem praktischen Verstand und der Tapferkeit der Mädchen aus dem Volke, die auf ihrer Hände Arbeit angewiesen sind und von dem frühen Ernst ihres Lebens gehärtet werden.
Die ›Taillen-Bertha‹ und die ›Ärmel-Anna‹, die unter ihrem direkten Oberbefehl standen, hatten sich nicht mehr über sie zu beklagen. Und im Frühjahr tat sie ihnen allen herzlich leid. Frau Willibald rief nämlich eines Tages ganz vergnügt in die Schneiderstube: »Fräulein Thekla! Kommen Sie mit dem Maßbuch! Fräulein Westheimer bekommt sechs seidene Kleider zur Aussteuer!«
Nun musste die arme Thekla auch noch die Toiletten für die Bankierstochter machen!
Sie biss die Lippen aufeinander, als sie in das Anprobezimmer trat und sich vor dem kleinen, plumpen aufgeputzten Fräulein und vor der dicken, aufgeputzten Mama verneigte. Aber dann flog manchmal ein Spottlächeln über ihr feines, blühendes Gesicht, während sie mit dem Zentimeter den Wuchs der Kundin abmaß, den kurzen Hals, die flache Büste, und mit Kennerblicken sah, dass die rechte Hüfte etwas schief saß und dass an der einen Schulter Watte eingelegt werden müsste, wenn die Taille die krumme Rückenlinie verbergen sollte.
Schön war sie nicht, seine Braut!
An dem Abend schaute sich Thekla mit einem schadenfrohen Wohlgefallen in den Spiegel, während sie ihr üppiges braunes Haar über ihre prächtigen weißen Schultern, über ihren stolzen Nacken herabrieseln ließ; – und dann las sie Ottmars Abschiedsbrief wieder; dieses Mal mit einem Gefühl der Genugtuung. In ihrem ersten Groll hatte sie alles, was er ihr schrieb, für nichtssagende Redensarten gehalten, für leeres Geflunker. Nun schien ihr mancher Satz doch wahr, voll von bitterem Ernst.
»Ach, weißt du, Thekla«, hieß es auf der zweiten Seite, »ich wollte wahrhaftig, ich dürfte dir treu bleiben. Ich würde mir gar nichts Besseres wünschen und gewiss niemals an eine andere denken als an dich, – aber was will man machen als armer Offizier mit so und so viel Schulden? Man muss in den sauren Apfel beißen und nach irgendeinem hässlichen, langweiligen Goldfisch angeln! Aber glaub mir, mein Lebwohl an dich, das ist auch für mich ein Abschied von der schönen, freien Jugend, vom Glück! Darum kann ich diese Erinnerung nie vergessen!«
Thekla trug den Brief nun immer mit sich herum. Es machte ihr Spaß, das Blatt in ihrer Tasche zu fühlen, während sie die seidenen Toiletten für Fräulein Sidonie Westheimer komponierte. Bisher war sie mit der jungen Dame nicht mehr viel in Berührung gekommen. Frau Willibald war selbst bei der Anprobe zugegen, und die Vorarbeiterin musste nur erscheinen, wenn eine Änderung nötig war.
Zuletzt, – wenige Tage vor der Hochzeit, – wurde in der Schneiderstube das Brautkleid begonnen, aus wunderbarem weißen Panne, weich wie Samt und glänzend wie Seide. Theklas feine geschickte Finger steckten den zarten Stoff in weichen Falten über die Puppe und arrangierten Spitzen und Bänder, mit einer künstlerischen Freude an der kostbaren weißen Pracht, fast in halber Vergessenheit, wen das Wunderwerk schmücken sollte. Nach altem Brauch hatten die jüngeren Mädchen ihr auch ein paar Stirnhärchen gebracht, die sie sich ausgerissen und die sie in die Brauttaille einnähen musste: Es hieß, dass man dann im nächsten Jahre selbst Hochzeit macht. Die Älteren hatten das zu oft ohne Erfolg versucht, um noch an den Zauber zu glauben.
»Fräulein Thekla!«, rief Frau Willibald am Tage vor der Hochzeit. »Sie müssen heute Nachmittag zu Westheimers zur letzten Anprobe. Die Damen können nicht mehr herkommen.«
Die Arbeiterinnen schauten alle erschrocken und gespannt auf Thekla. Im ersten Moment war sie allerdings entschlossen zu der trotzigen Erklärung: »Das tu’ ich nicht! Das können Sie nicht von mir verlangen!« Frau Willibald hätte in Anbetracht der Verhältnisse, die ihr gewiss nicht ganz unbekannt waren, die Weigerung gelten lassen müssen. Aber eine krankhafte Neugier, ein selbstquälerisches Verlangen, dieses Haus zu betreten, Ottmar vielleicht noch einmal zu begegnen, verdrängte Theklas erste Regung des Widerwillens. So stieg sie denn, mit dem Lehrmädchen hinter sich, das die große Schachtel trug, die teppichbelegte Treppe zu der Westheimer’schen Wohnung empor. Ein lichtstrahlender Vorraum, ein von Gold und Seide strotzender kleiner Salon. Man ließ sie warten. Zuweilen wurde eine Tür geöffnet; dann hörte man Teller und Tassen klappern, schwatzende Stimmen.
Sie dachte an alle die Arbeit, die heute noch zu erledigen war, an Frau Willibalds Verzweiflung, wenn sie so lange ausblieb, und die Ohren wurden ihr glühend heiß vor Aufregung und Ungeduld. Endlich nach einer Stunde rief sie nach einem Dienstmädchen, das hin- und herlief, und ließ fragen: ob man ihre Anwesenheit vergessen habe.
Es dauerte wieder geraume Zeit; dann trat endlich die junge Dame ein, erwiderte sehr von oben herab ihren Gruß und warf in beleidigendem Tone hin:
»Eine solche Last, dieses ewige Probieren! In Gottes Namen! Kommen Sie!«
Durch eine Flucht von Zimmern folgten Thekla und das Lehrmädchen mit der Schachtel der widerwillig Voranschreitenden in ein entzückendes Rokoko-Boudoir. Hier ließ sie sich gnädigst das Prachtgewand überwerfen, die Taille einhaken und stellte sich dann prüfend vor den großen, hellbeleuchteten Spiegel. Das kleine Persönchen verschwand fast in dem üppigen Gewoge der langen Schleppe; ihr fahles Gesicht wirkte noch grünlicher und reizloser über dem weißen Perlmutter-Glanz des schimmernden Gewebes, die plumpe Gestalt war mit all den kostbaren Spitzen und anmutig eingestreuten Myrtenbüscheln nicht zu verdecken. Sie schien sich selbst nicht zu gefallen und Thekla musste ihre Enttäuschung entgelten.
Unzufrieden und ärgerlich zupfte sie an der Taille herum. »Ich finde, die Toilette hat gar keinen Chic! Im Journal sah das alles so viel flotter und graziöser aus! Der Gürtel ist zu hoch! Diese Schleife wäre viel hübscher auf dieser Seite. Und das sind auch nicht die Spitzen, die ich ausgesucht habe! Nein, bitte, widersprechen Sie nicht! Ich weiß das ganz genau! Und der Rock ist vorne zu lang! Trennen Sie einmal hier die hässlichen Puffen an den Ärmeln ab. Und der Gürtel muss weg!« Sie klingelte: »Rufen Sie Mama oder meinen Bräutigam!«
Thekla kniete gerade auf dem Boden und steckte den Rock um einen halben Zentimeter kürzer, als Ottmar eintrat. Langsam hob sie die Augen zu ihm empor. War er nicht zusammengezuckt, als er sie erkannte? Jedenfalls schaute er über sie hinweg, als wäre sie Luft, als sie sich dann zu ihrer stattlichen Höhe aufrichtete und, nicht ohne Absicht, einen Moment in ihrer vornehmen stolzen Schlankheit neben der Unscheinbaren in dem leuchtenden gleißenden Gewande stand. Sie hätte es ihm noch verziehen, dass er nicht den Mut hatte, ihrem Blick zu begegnen. Aber als er mit seiner Braut dann französisch zu reden anfing und die beiden sich über ihren Kopf weg miteinander unterhielten wie in Gegenwart einer Magd; als er es gemütsruhig mitanhörte, wie Fräulein Sidonie aus Laune an dem Kleid herumkritisierte, immer wieder neue Änderungen verlangte, zertrennen ließ, was sie vorher nach langer Beratung selbst angeordnet hatte, ohne dass er in seiner erbärmlichen Feigheit ein Wort der Begütigung dazwischenwarf, ohne dass er nur einmal sagte: »Lass es jetzt gut sein!« – da begann’s in ihr zu kochen vor Zorn. Ihre Finger zitterten, während sie die Nadeln in den Stoff steckte. Fieberheiße, rote Flecke glühten auf ihren Wangen. Sie war am Rande ihrer Geduld und Selbstbeherrschung und überließ es dem Stubenmädchen, das Kleid aufzuhaken und in die Schachtel zu packen. Mit stummer Verbeugung verließ sie das Zimmer.
»Ein unangenehmes Frauenzimmer«, hörte sie das Fräulein Westheimer noch sagen. Nun sprach sie deutsch, um sicher verstanden zu werden.
Es war schon ganz still in der Schneiderstube, als Thekla noch immer nähte und nähte ohne aufzublicken. Ihre Schläfen schmerzten zum Zerspringen, und während sie arbeitete, hörte sie immerfort das wilde, zornige Klopfen ihres Herzens.
Sie war vernünftig gewesen. Sie hatte es ganz in der Ordnung gefunden, dass die andre ihm angehören würde vor aller Welt, dass die andere mit ihm fortreiste nach Italien, dass ihr alles Glück zuteilwürde, von dem sie niemals hatte träumen dürfen; denn die andere war reich und sie war arm. Aber nun fühlte sie nur mehr die krasse Ungerechtigkeit, dass die Übermütige sie auch noch quälen und schlecht behandeln durfte, weil sie reich war; dass sie dasitzen musste bis tief in die Nacht hinein, um alle die hundert Stiche wieder zu machen, nur wegen der boshaften Laune des verzogenen, verwöhnten Glückskindes. Von Viertelstunde zu Viertelstunde wuchs in ihr die Empörung. Sie hatte nur mehr den tollen, glühenden, überwältigenden Wunsch sich zu rächen, ihr wehzutun, ihrem Hochmut einen empfindlichen Schlag zu versetzen.
Als sie dann endlich das Brautkleid in die Schachtel legte, die das verschlafene Lehrmädchen heute noch zu Westheimers tragen musste, da schob sie in die seidene Rocktasche ein kleines Blatt Papier – Ottmars Abschiedsbrief.
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Man sah Thekla am nächsten Morgen an, dass sie nicht geschlafen hatte. Sie war sehr blass und hatte dunkle Ringe um die Augen. Sooft es klingelte, schrak sie heftig zusammen. In der Nacht war sie mitten in ihrem süßen Racherausch von der wilden Angst erfasst worden: Wenn die Heirat im letzten Moment zurückginge! Dann hätte sie Ottmars Existenz ruiniert, und Westheimers würden kommen und sie bei Frau Willibald anklagen, und es musste furchtbare Szenen geben, und sie verlor ihre Stelle und war dem Hass der beleidigten Familie preisgegeben.
Sie konnte nicht bereuen, was sie getan. Aber todesbang war es ihr zumute. Doch der Vormittag verging, ohne dass sie in den Salon gerufen wurde, und als sie mittags nach Hause ging, fuhren die eleganten Hochzeits-Wagen an ihr vorüber. Nun musste sie die Trauung sehen; sie konnte gar nicht anders. Das war ein Funkeln von Juwelen, ein Glitzern von Pailletten, ein Rauschen von Seide und Samt, ein Aufwand orientalischer Pracht in der schlichten protestantischen Kirche! Und doch machte die Festversammlung einen freudlosen Eindruck. Der Bräutigam trat mit einem düstern Kopf an den Altar. Die Braut hatte ihre selbstbewusste, übermütige Miene verloren und beugte sich unter dem Myrtenkranz wie unter einer Last. Ihr »Ja« klang gepresst, wie von Tränen erstickt. Ihre Hand glitt mit einem krampfhaften Zucken herab nach der Tasche ihres Kleides.
Aber nur eine, die mit kreideweißem Gesicht und großen, starren Augen hinter einer Säule stand, wusste diese Bewegung zu deuten.
Textnachweis
Aus: Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, 1903, Bd. 1, Nr. 22, S. 386–390. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)
Titelbild
Detail aus: Louise Catherine Breslau, La Toilette, 1898
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