Die drei Schwestern

von Božena Němcová (1820–1862)

In einer Stadt lebte ein Ehepaar und hatte drei Töchter. Die älteste hieß Baruška, die zweite Dorotka und die dritte Anuška. Die beiden älteren waren eitle Dirnen; den ganzen Tag putzten sie sich und tändelten, und Anuška musste für sie arbeiten. Sie hatte wohl nicht so weiße Wangen, so zarte Händchen wie ihre Schwestern, war aber dennoch viel schöner und angenehmer als sie. Die Mutter, anstatt die Anuška lieber zu haben, schmeichelte den älteren, und hätte nicht der Vater sich der armen Anuška angenommen, sie hätte mehr ausstehen müssen als ein Hund. Wo nur irgendeine neue Mode aufkam, da musste schon das ungerechte Mütterlein sie den beiden älteren Töchtern anschaffen, dass sie ja recht glänzen mögen; an Anuška aber dachte niemand, das Hausgesinde und einige alte Bettler ausgenommen, denen sie reichliches Almosen zu spenden pflegte. Einmal war in der nahen Hauptstadt Markt. Der Vater begab sich gleichfalls dahin. Vor seinem Abgang fragte er die Töchter, was er ihnen kaufen solle. Baruška und Dorotka schafften sich eine schreckliche Menge an; die eine ein Brokattuch, die zweite ein Friestuch, diese Bänder, jene Perlen.

»Und was soll ich dir bringen?«, fragte der Vater die Anuška, welche eben das Frühstück auftrug.

»Ich verlange nicht viel, Väterlein; was Euch am Wege den Hut anstreift, das bringet mir.«

»Das wird wohl nicht viel sein.“

»Sie braucht gar nichts zu haben, diese Schmutzfüßlerin«, ließen sich die Schwestern vernehmen, »für sie ist ein grober Kittel gut genug.«

»Sie ist ja ein Mädchen wie ihr und putzt sich so gern wie ihr«, antwortete der Vater mit einem tadelnden Blicke.

»Ei, wer schaut sie denn an«, sagte die Mutter und schob die Anuška zur Tür hinaus. Der Vater ging auf den lieben Markt, kaufte dort allerhand kostbare Sachen ein und kehrte nach Hause zurück. Als er an einem Wäldchen vorbeiging, streifte er mit dem Hute an einem Nussstrauch an; da erinnerte er sich der Anuška, pflückte drei Nüsse ab und verbarg sie in der Tasche. Als er nach Hause kam, gab er den Töchtern die kostbaren Sachen, dann nahm er die Nüsse und ging zur Anuška.

»Da hast, mein Kind, was du gewünscht, das brachte ich dir.«

Freudig dankte Anuška dem Vater für die kleine Gabe und verbarg sie am Busen. Als sie aber abends beim Brunnen Wasser im Eimer schöpfte, da beugte sie sich zu sehr, und die Nüsse fielen ins Wasser.

»Ach ich Unglückliche, was habe ich da getan; nun sind die schönen Nüsse dahin!«, so wehklagte die Anuška und beugte sich über das Brunnengeländer, bemüht, die Nüsse am Grunde wahrzunehmen. Aber der Brunnen war tief und die Nüsse waren weit. Da springt auf das Brunnengeländer ein grünes Fröschlein und fragt: »Was ist dir geschehen, Anuška, dass du weinst und wehklagst?«

»Wie soll ich nicht weinen und wehklagen, da mir die Nüsse, die ich heute vom Väterlein bekommen habe, in den Brunnen gefallen sind.«

»Höre auf zu weinen, ich bringe dir sie.« Und das Fröschlein sprang in den Brunnen, und augenblicklich war es wieder oben und legte an das Brunnengeländer die drei Nüsse.

»Hundertmal danke ich dir, gutes Fröschlein«, sagte Anuška und ergriff schnell die Nüsse.

»Weißt du aber, was in den Nüssen stecke?«, fragte das Fröschlein.

»Was anders sollte drin sein als ein Kern?«

»O keineswegs; in jeglicher befindet sich ein kostbares, dir genau passendes Kleid; wenn es dir belieben wird, brich eine davon auf und ziehe das Kleid an.« So sagte das Fröschlein und sprang herunter.

»Aber dies Fröschlein glaubt, ich sei so töricht, dies zu glauben. Wie hätte denn ein ganzes Kleid Platz in einer solchen Nuss? Ich werde sie mir aufbewahren und keine einzige aufknacken.« Sie verbarg die Nüsse wieder am Busen, nahm die Wassereimer und ging ihrer Arbeit nach. Ehe sie sich schlafen legte, wickelte sie die Nüsse in eine Leinwand und legte sie in die Truhe. Der Sonntag kam, die Schwestern zogen neue Kleider an und gingen in die Kirche wie zwei Pfauenweibchen. Mutter und Vater und das ganze Hausgesinde begaben sich ebenfalls zur Kirche, und nur Anuška musste daheimbleiben, um das Mittagmahl zu kochen und das Haus zu bewachen. Nachdem sie alles gesäubert und das Mittagsessen zum Feuer gestellt hatte, setzte sie sich auf die Truhe und weinte. »Ach Gott, könnte doch auch ich einmal in die liebe Kirche gehen, es ist ja dort wie im Himmel. Aber wenn ich auch dürfte, wie träte ich dort ein in diesen alten Kanafasröcken? Die Leute möchten mich ja auslachen. Wenn es wahr wäre, was das Fröschlein gesagt hatte? Nun, sei es so oder so, ich zerbreche wenigstens eine, zwei bleiben mir ja noch.« Zuerst wischte sie sich mit der groblinnenen Schürze die Tränen aus den Augen, dann holte sie aus der Truhe eine Nuss hervor, zog aus der Tasche ein Schnappmesserchen und spaltete die Nuss mitten entzwei.

»Himmlisches Väterlein! Vielleicht ist es doch wahr!«, so schrie sie auf, als sie die Nuss spaltete und etwas darin blitzte. Sie setzte sich auf die Truhe und breitete es behutsam aus. Zuerst zog sie ein rosenfarbenes, silbergesticktes Kleid hervor, dann einen Silbergürtel, einen weißen Schleier, zart wie ein Spinnengewebe, ein Perlendiadem und weiße silbergestickte Schuhe.

»Gott, lieber Gott! Das soll für mich sein? Wie werde ich es nur anziehen? Aber es wird irgendwie gehen; das Mittagsessen kocht, die Unsern kommen vor zwei Stunden nicht nach Hause, ich zieh’ mich also an und gehe in die Kirche.« Und sie ging schnell, wusch sich sauber ab und begann sich anzukleiden. Alles passte ihr wie angegossen. Zuletzt flocht sie sich in die Haare das Perlendiadem, zog den Schleier vor das Antlitz und rauschte fort. Bei der Haustür besprengte sie sich mit dem Weihwasser und sagte: »Nebel sei vor mir, Nebel sei hinter mir, der Herrgott selbst über mir! Engelchen mein, Schutzengelein, bewache indessen das Haus allein.«

In der Kirche traten die Leute auseinander und machten der Anuška im Vorgehen Platz, denn jedermann glaubte, es sei dies irgendeine erlauchte Fürstin. Sie setzte sich gerade den Schwestern gegenüber. Von ihrem Eintritte an dachten die Schwestern auf kein Vaterunser mehr, sondern blickten beständig nur auf die Perlen und das schöne Kleid dieser unbekannten Dame. Dass dies Anuška sei, hätten sie in ihrem Leben nicht gedacht. Aber in der Kirche befand sich noch jemand, dem Anuška in die Augen fiel. Der junge Beherrscher des Landes war auf seiner Durchreise durch die Stadt in die Kirche gegangen und erblickte dort die Anuška. Obzwar er des Schleiers wegen ihr Antlitz nicht genau wahrnehmen konnte, so schloss er doch aus ihrer ganzen Erscheinung, dass sie schön sei. Er fragte den, er fragte jenen, aber keiner konnte ihm Auskunft geben. Er wartete, bis sie aus der Kirche ginge; aber Anuška betete ein Vaterunser, warf einige Blicke über die ganze Kirche und eilte nach Hause. Ehe der Fürst sich durch die Menge hindurchwand, war sie nicht mehr zu sehen.

Daheim zog sie die Kleider rasch aus, legte sie behutsam in die Nuss, versperrte die Truhe und eilte in die Küche, in der Furcht, das Feuer ausgelöscht und die Töpfe leer zu finden. Aber die Flamme knisterte und das Mittagsessen kochte.

»Ei, bezahl’ es der Herrgott, dass es so gelungen ist.« Nun begann sie sich zu tummeln, und in einem Weilchen war alles fertig. Die Eltern und die Schwestern kamen nach Hause, und Anuška ging ihnen entgegen.

»Heute hättest du in der Kirche sein sollen, da war dort eine hübsche Frau«, sprachen die Schwestern, um nur die Schwester zu ärgern.

»Hm, ich habe sie auch gesehen.«

»Wo hast du sie gesehen?«

»Ich saß auf unserm Birnbaum, als sie vorbeiging.«

Augenblicklich befahlen die schlimmen Schwestern dem Knechte, er solle den Birnbaum umhauen. Die ganze Woche hindurch sprachen sie von nichts anderm als von der schönen Frau und von dem jungen Fürsten, wie er ihr nachgeeilt sei und sie überall gesucht habe.

Am zweiten Sonntag begab sich alles wieder in die Kirche. Da schickte sich auch Anuška alles zu, wusch sich sauber ab und ging sich anzukleiden. Sie öffnete die zweite Nuss und zog hervor ein Kleid von wolkenblauer Farbe, besetzt mit Perlen Diamanten, ein Diamantenstirnband, einen weißen Schleier und weiße Schuhe.

»Möchten mich die Schwestern in diesen Kleidern erkennen, sie würden mich kreuzigen. Aber ich muss mir diesen Fürsten auch anschauen, in meinem Leben habe ich noch keinen solchen Herrn gesehen.« Bei der Tür besprengte sie sich abermals mit dem Weihwasser, indem sie sagte: »Nebel sei vor mir, Nebel sei hinter mir, der Herrgott selbst über mir. Engelchen mein, Schutzengelein, bewache indessen das Haus allein!« Hernach eilte sie zur Kirche. Die Leute gaben schon eine Weile acht, ob sie wieder kommen werde, und kaum hatten sie sie wahrgenommen, da verneigte sich jedermann ehrfurchtsvoll und machte ihr Platz. Nachdem Anuška das Kreuz gemacht, warf sie das Äuglein nach rechts, wo der junge Fürst stand, aber errötend wandte sie sich schnell um, denn ihr Äuglein war seinem feurigen Blicke begegnet. Das Herz begann ihr zu klopfen und eine solche Befangenheit erfasste sie, dass sie sich lieber in der Küche gesehen hätte.

Nach der Wandlung erhob sie sich schnell, schlüpfte durch die Menge und eilte nach Hause. Der Fürst drang sich ihr auf der Ferse nach, erblickte sie jedoch nicht mehr.

»Nun, hast du heute auch die Fürstin gesehen?«, fragten die Schwestern, als sie aus der Kirche nach Hause kamen.

»Freilich habe ich sie gesehen, ich saß oben am Pförtchen«, entgegnete Anuška.

Sogleich ließen die Schwestern das Pförtchen niederreißen. Wieder ward die ganze Woche nur von dem Fürsten und der fremden Fürstin gesprochen. Anuška freute sich auf den Sonntag und gedachte zuweilen auch des schönen Fürsten. Zeitlicher als sonst begaben sich alle am dritten Sonntag in die Kirche. Kaum waren sie aus dem Tore getreten, eilte Anuška, um sich anzukleiden. In der dritten Nuss gab es Kleider von Perlenfarbe, reich mit Gold gestickt, einen goldgerändeten Schleier, ein Stirnband von Rubinen und goldgestickte Schuhe. Nachdem sie sich geschmückt und das Antlitz mit dem kostbaren Schleier verhüllt hatte, tauchte sie Finger in die Weihwasserschalee und sprach dabei: »Nebel sei vor mir, Nebel sei hinter mir, der Herrgott selbst über mir! Engelchen mein, Schutzengelein, bewache indessen das Haus allein!« Alsdann eilte sie wie ein Reh in den Tempel des Herrn.

Lange schon schaute der Fürst gegen die Tür, wann die Fürstin eintreten werde. »Diesmal entrinnt sie mir nicht; ich muss sie sehen, ich muss wissen, wer sie ist.« Er hatte es pfiffig angestiftet. Zwei mit Kieferstämmen beladene Wägen standen unweit der Kirche, und die Knechte hatten den Auftrag, sobald die Frau in die Kirche eingetreten sei, die Straße mit den Kieferstämmen zu versperren. Der Fürst dachte, sie einholen zu können, ehe sie die Kieferstämme überstiegen hätte.

Nachdem Anuška in die Kirche gekommen war, kniete sie nieder und begann andächtig zu beten. Sie betete für alle, den guten Vater, auch für die schlimme Mutter und für die schlimmen Schwestern, dann auch für den jungen Fürsten, der so sehnsüchtig sie anblickte. Nach dem Gebete machte sie das Kreuz, schaute noch mit einem Äuglein nach dem Fürsten und eilte nach Hause. Da sieht sie vor der Kirche eine solche Menge Kiefernholz. Aber was machte sich die Anuška daraus, war sie ja doch gewohnt, über Baumstämme zu springen. Sie schürzte das Perlenkleid auf und war wie eine Fliege schon auf der andern Seite. Aber ein Schuh blieb in dem Kiefernholze zurück.

Der Fürst kam aus der Kirche heraus, und als er den kleinen goldgestickten Schuh erblickte, hob er ihn traurig auf und steckte ihn zu sich.

Da schlich eine alte Bettlerin heran und flüsterte: »Gnädiger Fürst, jene Frau ist die Tochter aus jenem Hause, ich kenne sie.« Dabei wies sie mit dem Finger nach dem Hause von Anuškas Vater.

Ehe sich der Fürst umsah, war die Bettlerin fort. »Die Alte hält mich wohl für einen Narren? Aber es ist wohl immerhin möglich, dass sich jene Frau dahin versteckt habe und dass man sie dort kenne.« Nach diesen Worten ging er auf das Häuschen zu.

Mittlerweile legte Anuška das Kleid in die Nuss, und eine Träne nach der andern rann ihr über die Wangen. »Das Väterlein hat recht, wenn es sagt: Jeder kleide sich nach seinem Stande! O warum habe ich diese Nüsse aufgebrochen und mich von jenen Kostbarkeiten verleiten lassen: Was hab ich davon? Dass mich nichts mehr auf der Welt freuen wird. Das unglückselige Fröschlein, was hat es mir angeraten! Dazu habe ich noch einen Schuh verloren. Was wird wohl der schöne Herr damit anfangen? Ach Gott! Gott! Es ist töricht, an ihn zu denken!« Also seufzend und klagend entäußerte sich die arme Maid des kostbaren Schmuckes und ging in die Küche. Die Schwestern kamen nach Hause, aber sie stellte weder eine Frage, noch gab sie eine Antwort.

Eben schickte man sich zum Mittagsessen an, da fährt in den Hof ein schöner Wagen mit vier Pferden, und drin sitzt der Herr Fürst selber; der Vater läuft hinaus, aber da tritt schon der Fürst in die Stube.

»Ist es wahr, dass ihr eine Tochter habet?«, fragte er, nachdem er gegrüßt hatte.

»Ja, wir haben, gnädiger Fürst!«, antwortete die Frau und gab dem Manne einen Wink, dass er schweige.

»Als ich heute aus der Kirche ging, fand ich einen Schuh und beschloss bei mir, dass diejenige, welche imstande ist, diesen Schuh anzuziehen, meine Gattin sein solle. Wo ist euere Tochter?«

»Verzeiht, gnädiger Herr! Sie ist sehr schüchtern und würde kaum in Eurer Gegenwart den Schuh anziehen wollen; gebt mir ihn in die Hand, und ich gehe zu ihr ins Kämmerlein.«

Der Fürst reichte ihr ihn und glaubte schon gewonnen zu haben.

Die schlaue Mutter nahm den Schuh und ging in die Kammer, wo die Töchter schon neugierig warteten, bis sie sie rufen werde. »Mädchen«, sagte die Mutter, »nehmet eueren Verstand zusammen, eine von euch wird Fürstin sein.« Da erzählte sie ihnen alles und hielt den Schuh empor. Baruška ergriff ihn, um ihn die Erste anzuziehen; aber der Fuß war beinahe um die halbe Ferse größer.

»Keine Hilfe, wenn du Fürstin sein willst, lass dir ein Stück der Ferse abschneiden«, riet die Mutter.

»Das lass’ ich tun«, antwortete entschlossen Baruška, die Mutter schnitt ihr ein Stück der Ferse ab, und sie zog den Schuh an. Dann putzte sie sich heraus und ging zu dem Fürsten. Nachdem sich der Fürst überzeugt hatte, dass sie den Schuh angezogen habe, konnte er nichts sagen, wiewohl es ihm schien, dass sie ein wenig klein und nicht so schön sei, als er sich die fremde Frau vorgestellt hatte. Mit Freuden gaben ihr die Eltern ihren Segen, und der Fürst setzte sich mit der Braut und ihrer Mutter in den Wagen. Er hatte aber ein kleines Hündchen, das ihn überallhin begleitete. Nachdem sie ein Stück Weges gefahren waren, begann das Hündchen an zu bellen: »Haff, haff, haff, unser Herr führt eine fersenlose Frau!«

»Was sagst du da, Hündchen?«, fragte der Fürst und rief es zu sich.

»Haff, haff, haff, unser Herr führt eine fersenlose Frau!«, bellte das Hündchen zum zweiten Male.

Da wandte sich der Fürst zur Baruška und befahl ihr, den Schuh auszuziehen. Ganz blass tat die Braut nach des Fürsten Befehl und zeigte eine verbundene Ferse.

»Du Betrügerin, so wolltest du mich hintergehen? Augenblicklich gehe mir aus den Augen. Und du«, wandte er sich zu der Mutter, »sage, wo ist die Frau, der dieser Schuh gehört? Sie soll in deinem Hause verborgen sein?«

»Ach verzeiht, gnädiger Fürst! Ich kann nicht dafür, sie wollte nicht gehen und schickte die Schwester; wenn diese schüchtern ist, so ist jene noch schüchterner. Aber wenn Ihr befehlet, so muss sie Euch zu Willen stehen.«

Sie nahm den Schuh und ging zur Dorotka, in der Meinung, zum zweiten Male werde es ihr besser glücken. Dorotka konnte der Zehe wegen den Schuh nicht anziehen.

»Ei was liegt denn an einer Zehe, wir schneiden sie ab«, sagte die Mutter.

»Gern lasse ich mir dies machen, wenn ich nur Fürstin sein werde«, sprach Dorotka, ließ sich die Zehe abschneiden, und die Mutter führte sie zu dem Fürsten. Obzwar sie von gleicher Höhe mit der Unbekannten zu sein schien und schöner von Antlitz war als Baruška, gefiel sie doch nicht dem Fürsten, trotzdem nahm er sie mit sich.

Da beginnt wieder das unselige Hündchen: »Haff, haff, haff, unser Herr führt eine zehenlose Frau.«

»Was hat denn dies Hündchen wieder zu bellen?«, sagte der Herr und rief es zu sich.

»Haff, haff, haff, unser Herr führt eine zehenlose Frau.«

Da fuhr abermals der Fürst die Braut an, und der Schuh musste vom Fuße. Und er sah, dass ihr in der Tat die Zehe fehle.

»Ihr schändlichen Weiber, so betrügt ihr mich? Nun ist das Maß voll und ihr entgeht der Strafe nicht. Wen habet ihr da versteckt?«

»O gnädigster Fürst! Außer einigen dienenden Mägden ist niemand hier.«

»Und wo sind sie, führt sie her.«

Der Mann lief, am ganzen Leibe zitternd, um das Hausgesinde und hätte gern auch die Anuška vorgeführt, allein er fürchtete sich vor seinem Weibe.

Als der Fürst die bausbackigen, untersetzten Dienstmägde sah, schüttelte er den Kopf, dass keine die Rechte sei. »Und ein anderes Frauenzimmer habet ihr nicht im Hause?«, fragte der Fürst, ganz verdrießlich darüber, dass ihn die Bettlerin irregeführt habe.

»Wir haben noch eine Tochter, gnädiger Fürst!«, ließ der Vater mit furchtsamer Stimme vernehmen, »aber sie ist immer so schmutzig und so einfältig, dass sie gar nicht unter die Leute geht.“

»Wo ist sie, führt sie her zu mir.«

»Vielleicht hat sie sich irgendwo versteckt, ich werde sie holen.«

Die Schwestern wurden vor Zorn rot wie Pfingstrosen, und die Alte sagte mit heiserer Stimme: »Unser Alter hat nicht ein Stückchen Vernunft und macht uns nur Schande wie diese schmutzige Gans; ich will mich gar nicht zu ihr melden als Mutter.«

Anuška befand sich weder in der Küche noch im Hofe, sondern saß am Dachboden auf der Truhe und weinte, dass ihr das Herzlein schier brechen wollte. Warum, das wusste sie selber nicht. Da erschien das Väterlein. »Anuška, du sollst herunter gehen, der Fürst will auch dich sehen.«

»Der Fürst, sagt Ihr, will mich sehen? Ist er denn nicht mit der Baruška fortgefahren?«

»Freilich nicht; Gott weiß, wer ihn da angelogen hat, dass sich in unserem Hause die Frau aufhalte, die er in der Kirche gesehen. Die Mutter war so töricht und gab ein Mädel nach dem andern für sie aus, aber er kam dahinter; nun ist er böse und will alle Frauenzimmer sehen. Komm nur und schäme dich nicht.«

»Nun, so wartet unten, Väterlein, ich werde ein wenig meinen Anzug ordnen.«

Der Vater ging, und Anuška begann das goldgestickte Perlenkleid anzuziehen. Das Herz klopfte ihr heftig, Angst und Hoffnung spiegelte sich auf ihrem Engelsantlitz ab. »Was wird er mir sagen? Wird er mich bestrafen, dass ich arme Magd ein solches Kleid angezogen und ihn getäuscht habe?« Unter solchem Erwägen schritt sie herunter.

»Um aller Heiligen willen!«, sprach der Vater, als er sie erblickte; »woher hast du diese Kleider, Anuška?«

»Kommt nur, ich werde es Euch sagen!« Sie verhüllte das Antlitz mit dem Schleier und ging mit dem Vater in den Hof, wo der Fürst wie auf Dornen stand.

»Wie ist diese schöne Frau hergekommen?«, fragten die Schwestern, und verwundert sah eine die andere an. Aber der Fürst war mit einem Sprunge bei der Anuška.

»Weshalb verbirgst du, Jungfrau, dein anmutiges Antlitz und fliehst vor mir? Ich sehne mich ja nach deinem Anblick, wie sich der Pilger, der durch die Finsternis irrt, nach dem Sonnenglanze sehnt.«

»Ach, gnädiger Fürst, redet nicht also zu mir, Ihr irret Euch. Dies ist mein Vater, und ich bin nur ein armes Mädchen.« Dabei lüftete Anuška den Schleier, und in diesem unschuldigen lieblichen Antlitz erglänzte ein dunkelbraunes Auge, dessen Blitz wie ein Pfeil die Seele des Fürsten durchfuhr.

»Ich glaube nicht, was du sagst, ein armes Mädchen kann nicht ein so kostbares Gewand tragen.«

»Dass es unsere Tochter sei, das ist die göttliche Wahrheit«, sprang die Mutter dem Fürsten in die Rede, denn es kochte in ihr alles vor Zorn, dass die gehasste Tochter vielleicht Fürstin werden sollte; »aber woher sie diese Kleidung genommen, weiß ich nicht. Nun sprich, du ungeratenes Geschöpf, wer gab dir diese Kleidung?«

»Herr, mein Vater brachte mir vom Jahrmarkte drei Nüsse und darin waren die Kleider. Ich zog sie beim Kirchgange an, da ich glaubte, niemand würde mich erkennen. Dass daraus solch ein Ärgernis erwachsen werde, daran habe ich mir nicht gedacht.«

»Fürchte dich nicht, Teure, fürchte dich nicht, es wird dir nichts Arges widerfahren. Hier hast du meine Hand, und wenn ich dir gefalle, so komme mit mir.«

Anuška war bei diesen Worten wie mit Scharlach begossen, und Tränen benetzten ihr schweres Gewand; als ihr aber der Fürst die Hand reichte, legte sie gern die ihrige ein.

Als die Schwestern sahen, dass die missachtete Anuška Fürstin geworden, begannen sie zu weinen und fielen ihr um den Hals, als möchten sie diese Gott weiß wie ungern verlieren, indessen weinten sie vor lauter Wut. Nur der Vater gab ihr mit Freuden seinen Segen und wünschte ihr aus aufrichtigem Herzen Glück. Als Anuška in den Wagen stieg, kam das Hündchen herbei und begann zu schmeicheln und zu bellen: »Haff, haff, haff, unser Herr führt uns eine schöne Frau nach Hause!«

»Das Tier war klüger als ich«, sagte der Fürst und streichelte das gescheite Hündchen. Hierauf setzte er sich zu seiner schönen Anuška, der Kutscher peitschte die Pferde, und diese flogen dahin.

Als Anuška den Hausleuten aus den Augen geschwunden war, wandte sich der Groll der Schwestern und der Mutter gegen den armen Vater, und wie ein Gießbach strömten die Giftworte von ihren Lippen.

»Das ist schön«, brauste die Alte auf und stemmte die Hände in die Seiten, »mit mir hast du gezankt, dass ich die zwei da verhätschle, und hast du etwas Besseres getan? Solch einen kostbaren Anzug kauft er dieser plumpen Schmutzfüßlerin, die uns nur Schande gemacht hat, und vergisst auf die, zu denen jedermann aufschaut, von denen jedermann spricht? Du bist Vater?«

»Aber sei nur ruhig, du weißt ja nicht, wie das geschehen ist«, besänftigte sie der Mann. »Was wusste ich denn, dass sich in den Nüssen ein Putz befinden werde? Gott hat ihr das beschert für ihre Tugend und Güte. Ihr habt sie genug gequält, und sie hat alles geduldig ertragen. Nun ist sie glücklich!«

»O nimm dich ihrer nur an, du wirst es schon ohnehin bald genug erleben, dass der Fürst sie zurückbringt. Das wäre eine saubere Fürstin! Nun aber musst du der Baruška und der Dorotka einen ganz ähnlichen Anzug verschaffen, wenn du von dem Gesträuche weißt, wo so teure Nüsse wachsen.«

»Aber mein Gott, was verlangt ihr denn von mir? Ich habe euch gesagt, dass –«

»Keine Ausreden«, unterbrach die Alte seine Rede, »wir sind nicht so dumm, dass du uns Elstern auf dem Weidenbusche zeigen könntest. Wenn du uns die Anzüge nicht bringst, so ziehe zu deinem Liebling und bei uns lasse dich nimmermehr sehen.«

Um das Gebell nicht länger anhören zu müssen, ging der arme Vater lieber aus dem Hause und nahm sich vor, ihnen die Nüsse zu bringen, mögen sie wie immer beschaffen sein. Er begab sich also wieder zu jenem Gesträuche, an das er ehedem angestreift war, und pflückte drei Nüsse ab. Dabei aber fasste er gleich den Entschluss, zur Anuška zu wandern, sobald er den Töchtern die Nüsse übergeben haben würde. Als diese den Vater ankommen sahen, liefen sie ihm entgegen, denn sie dachten, dass er gewiss die Kleider bringe. Hastig rissen sie ihm die Nüsse aus der Hand, und jede machte eine auf. Aber siehe da! Aus jeder Nuss sprang eine drei Ellen lange Schlange heraus, wand sich einer jeden um den Hals und erwürgte sie. Ganz blau fielen sie zur Erde, diese öffnete sich, und nicht die geringste Spur blieb von ihnen zurück. Niemand vergoss eine Träne um sie!

Der Fürst liebte die Anuška mehr und mehr und bereute es zeitlebens nicht, sie zur Gemahlin erwählt zu haben.


Übersetzung
Aus dem Tschechischen von Alfred Waldau

Textnachweis
Aus: Böhmisches Märchenbuch, deutsch von Alfred Waldau, Prag 1860, S. 638–655. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Marianne Stokes, Die Königin und der Page, 1896

Zwei Gedichte

von Irma Erben-Sedlaczek (1879–?)

Leises Glück

Das waren Tage leisen Zaubers voll –
Die Worte tanzten, sonnenstäubchenzart,
Im goldnen Flimmerstreif von dir zu mir
Und blieben zitternd hängen in der Luft,
Aus Furcht, am eignen, lauten Klang zu sterben,
So fremd, so märchenfremd war ihr Art –
– – – –
Und unsre Seelen gingen Hand in Hand
Durch Gärten, die in weißen Träumen blühten, –
Und still in all dem Duft und Schimmer stand
Ein Engel Gottes, unsern Traum zu hüten.

Spätherbst

In heißem Prangen standen alle Gärten,
als unser Lieben zueinander fand.
Und heut, da wir zur Stätte wiederkehrten,
liegt tot und fahl und lichtberaubt das Land.

Es ist ja nicht, dass wir der Lieb vergaßen,
die über uns einst wie ein Wunder kam.
Es ist: dass alles, was wir je besaßen,
von unsrem Glück, dem selig unbeschwerten,
der Herbststurm fegte von des Lebens Straßen
und unsrer Herzen Blüte mit sich nahm.


Textnachweis
Leises Glück, aus: Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 11. November 1911, S. 2.
Spätherbst, aus: Die Muskete, XXI. Jg. 1926, Nummer 23, S.536.
(Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Boznańska, Blick aus dem Fenster, 1900

Frühe Gedichte

von Hilda Bergmann (1878–1947)

Die Windmühle

Sie ragt vom Hügel dunkel in die Bläue
Und lässt die schweren Flügel langsam kreisen.
Ihr Freund, der Wind, umfächelt sie aufs neue,
Summt ihr ins Ohr die oft gehörten Weisen.

Die Lieder kennt sie längst. Und kennt auch ihn …
Bei seinem Singen ist sie grau geworden.
Wie oft sah sie ihn treulos weiterziehn
Und wiederstürmen dann aus fernem Norden.

Sie fühlte manchmal bange Sehnsuchtsqual,
Wenn regungslos sie in die Weite blickte –
Und dann Erfüllungsschmerzen, wenn brutal
Er seine Schauer ihr zum Gruße schickte.

Jetzt eben kehrt er wieder. Doch ihr Herz
Ist abgestumpft und wunschlos. Sonder Klagen,
Doch flügelmüde starrt sie himmelwärts,
Er hat nichts mehr – gar nichts mehr zu sagen …

Der flammende Abend

Stehen oft auf goldnem Grunde
Blasse Heiligenfiguren,
Sichtbar tragend ihre Wunde
Und das Zeichen der Torturen,
Starren Blicks, in starren Falten
Die Gewänder, – die Gesichter
Der verneinenden Gestalten
Ohne Leben – ohne Lichter – –

Heute haben Ströme Goldes
Schwer den Himmel übergossen
Und der Abend hat ein holdes
Farbenzauberspiel erschlossen:
Maiengrüner Blätter Schwanken
Auf dem Goldgrund. Und das Leben
Selber scheint dem Frohgedanken
Der Bejahung recht zu geben.

Die junge Nonne

Weiße Flügel über schwarzem Kleid, –
aber keine, die ins Leben tragen.
Ihre stumme Sprache heißt Entsagen,
alles Irdische heißt Eitelkeit.

Augen, deren Blick zu Boden geht,
Lippen, welche betend sich bewegen,
denn – die Welt ist böse und es steht
die Versuchung lockend an den Wegen.

Und sie sieht nicht, dass die Sonne scheint,
Sündenfurcht hält ihren Sinn umnachtet.
Ob der Gott, dem sie zu dienen meint,
dieses Leben als gelebt betrachtet?

Weiße Flügel über schwarzem Kleid, –
sie beschatten kinderweiche Züge.
Ob nicht einst aus Irrtum und aus Lüge
diese Seele um Erlösung schreit?

Und es will Abend werden

Ein Tag: er ahnt es kaum, dass er der letzte
von allen schönen ist. – Doch scheint es nicht,
als blaut’ sein Himmel blauer und als netzte
ihm eine Tränenspur das Angesicht?
Liegt nicht die Sonne wärmer auf den Hängen
und zärtlicher als jemals hingebannt –
und zieht nicht mit den Abendglockenklängen
schwermütig Abschiednehmen durch das Land?

Und eine Stunde, die von allem leuchtet,
was nur die Welt an Schönheit geben kann:
Warum hat sich das Auge dir gefeuchtet,
was für ein leiser Schauer weht dich an?
Ist es der letzte Becher, den das Leben
rosenumwunden deinen Lippen neigt,
um dann den dunkeln Schleier wegzuheben,
der vor der Zukunft liegt und sie verschweigt?


Textnachweis
Die Windmühle, aus: Die Muskete, 20. Februar 1908, S. 165.
Der flammende Abend, aus: Neues Frauenleben, XXIII. Jg., Juli 1911, Nummer 7, S. 194.
Die junge Nonne; Und es will Abend werden, aus: Neues Frauenleben, XVI. Jg., Juli 1914, Nummer 7, S. 220–221.
(Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Tina Blau Dordrecht

Herbstgedichte

von Hilda Bergmann (1878–1947)

Herbst

Gehst du wieder, Fackeln in den Händen,
Hängen zu, die du mit Feuer färbst,
sanfter dann zu blumigen Geländen,
Farbigkeit noch einmal zu verschwenden,
ehe deine Sonnentage enden,
bunter Herbst?

Ach, schon raubt der Frost von deinem Feste,
was der Wind des Nordens übrig ließ:
Blätter taumeln trunken vom Geäste
und bedecken welke Rasenreste
wie ein goldnes Vlies.

Bald, – und auch die hundertjähr’gen Linden
geben ihren Schmuck den Stürmen preis.
Und die Teiche, offen allen Winden,
fühlen ihren Augenstern erblinden
jäh im Eis.

Das gelbe Blatt

Auf glatter Fläche schwimmt ein gelbes Blatt,
wer weiß, aus welcher Ferne hergeweht.
Des Windes leichte Hand hat es gesät
in einen Teich unweit der großen Stadt.
Es schwebt wie eine Blütenflocke, die
ihr leuchtend Gold dem Wassergrün vermählt:
ein Stückchen Leben, licht und glanzbeseelt
auf einem Grunde von Melancholie.

Sanfter Herbst

Ein sanfter Herbst geht seinem Ende zu
Die Bäume, schon im Purpur der Vergängnis,
schwer von der Früchte reifender Bedrängnis,
ermüdeten und sehnen sich nach Ruh’.

Vom Pflug zerrissen liegt das Land im Hauch
des blauen Tags. Es strömt aus jeder Rille
Geruch von Erde. O geliebte, stille,
verträumte Zeit! Was macht es, wenn dann auch

der Winter kommen muss nach dem Gebot,
dem das Geschaffne hörig ist und pflichtig?
In dieser Stunde ist nur eines wichtig:
das Leben lieben treu bis in den Tod.

November

Nun gießt das Jahr aus dem geneigten Kruge
die letzten Tropfen glänzend-bunten Scheins.
Gerötet sind die Ranken wilden Weins.
Wildgänse schreien im Vorüberfluge.

Geerntet ist, was Feld und Wiese boten,
geborgen alles ackerauf- und ab.
Dort drüben auf dem Erntefeld der Toten
entbrennen Kerzen über jedem Grab.

Auf jedem Hügel weiße Chrysanthemen.
Es ist, als wollte deren mildes Licht
wie Freundeshand dich bei den Händen nehmen,
dich trösten wie ein Freundesangesicht.

Es ist, als raunt’ es in den Friedhofseschen:
»Bald kommt ihr nach, ihr Wandrer in der Zeit.
Lasst nur die Leuchte Liebe nicht erlöschen
und seid gesammelt, still und schnittbereit.«

Raureif

Raureif hat heut’ den Garten eingehegt
und sein Gezweig in Hauch und Flor gefangen.
Jedweder braune Strauch am Wege trägt
Kristallgeschmeide und Korallenspangen.

In feinstem Zug dem Leben nachgespürt
bildet der Frost als Künstler die Gedanken:
Nie hat ein Goldschmied feiner ziseliert
solch Gitterwerk von Blatt und Silberranken.

Nie hat ein Dichter freier überspannt
die Welt mit einem Wundernetz von Blüten.
Heut’ morgen ist der Park ein Märchenland
und in Legenden eingewirkt und Mythen.

Er strahlt in seiner ungewohnten Haft,
hoch in der Luft krächzt missvergnügt ein Rabe.
Ich aber seh’ vor solcher Meisterschaft,
wieviel, wieviel ich noch zu lernen habe …


Textnachweis
Herbst, aus: Hilda Bergmann, Zünd Lichter an. Gedichte, Wien 1936, S. 22.
Das gelbe Blatt, aus: Am häuslichen Herd. Schweizerische illustrierte Monatsschrift, 50. Jg. (1946–1947), 5. H., S. 93.
Sanfter Herbst, aus: Am häuslichen Herd. Schweizerische illustrierte Monatsschrift, 46. Jg. (1942–1943), 2. H., S. 38.
November, aus: Am häuslichen Herd. Schweizerische illustrierte Monatsschrift, 46. Jg. (1942–1943), 3. H., S. 65.
Raureif, aus: Jugend, Jg. 1925, Heft Nr. 49, S. 1174.
(Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Wisinger-Florian, Friedhof in der Dämmerung

Schönbrunn (Drei Gedichte)

von Hilda Bergmann (1878–1947)

Schönbrunn

In diesem Garten schlummert noch Alt-Wien.
Wie einstens steigt das Wasser der Fontänen
Und perlt nieder zu den blassen Schwänen,
Die ihre träumerischen Kreise ziehn.

Und hüllt den moosbewachsenen Delfin,
An dem verwitterte Najaden lehnen
In einen Schleier wie von tausend Tränen,
Die langsam in die grüne Tiefe ziehn.

Wird plötzlich nicht der tiefe Schlummer enden?
Ist hinter den verschnittnen Taxuswänden
Nicht junges Volk zum Schäferspiel versteckt?

Die kleinen Amoretten stehn und lauschen – –
Doch nur des Springquells monotones Rauschen
Erfüllt den Park. Alt-Wien bleibt unerweckt.

Nymphe in Schönbrunn

Als wären sie aus Stein, die grünen Mauern,
so stehn sie hart ins blasse Blau gebannt:
vom Sonnengold umfasst und hell gerändert,
seit Urgroßvätertagen unverändert
und alle zu dem gelben Schloss gewandt,

das weltverloren, mit geschloss’nen Lidern
inmitten all des grellen Lichtes steht,
ein alter Träumer, dem das Spiel des Lebens
umsonst den Fuß umschmeichelt, dem vergebens
ein fremd Jahrhundert um die Stirne weht.

Und mit ihm träumt der ganze weite Garten.
Nur eine Nymphe beugt sich vor und späht,
das Auge von der Marmorhand beschattet,
und wartet Tag um Tage unermattet,
ob nicht die alte Zeit  vorübergeht.

Herbst in Schönbrunn

Verschwenderische Tage und Gebärden,
Wenn alle Sträucher Gold und Purpur tragen
Und wenn die alten Bäume Fackeln werden,
Aus denen lichterloh die Flammen schlagen.
Den Park erfüllt ein Leuchten, Glühen, Prangen,
Ein Farbenrausch durchzittert die Alleen,
Und leisen Fußes kommt der Herbst gegangen,
Im Blätterrieseln, um sein Werk zu sehen.

Er rührt mit leichtem Finger die Platanen,
Damit ihr gelber Regen niederflute,
Er nimmt den Ulmen ihre bunten Fahnen
Und winkt, dass sich der wilde Wein verblute;
Und in die Brunnen, über die Amphoren
Verstreut er händevoll die vielen losen
Braungoldnen Blätter und bekränzt die Horen
Und Grazien damit, anstatt mit Rosen.

Dann spinnt er blaue Schleier um die Gänge,
Die vielverschlungen ineinandertauchen,
Lässt der Fontänen heitere Gesänge
Mit einem Mal verstummen und verhauchen,
Spielt mit der Trauerweide langen Haaren
Und mit der Birken flimmernden Gewändern.
Und in den Lüften ziehn die Wanderscharen
Der wilden Vögel nach den Sonnenländern.


Textnachweis
Schönbrunn, aus: Neues Frauenleben, XXIV. Jg, Heft 10, Oktober 1912, S. 279.
Nymphe in Schönbrunn, aus: Moderne Welt, Jg. 1924, Heft Nr. 24, S. 7.
Herbst in Schönbrunn, aus: Jugend, Jg. 1923, Heft Nr. 21, S. 618.
(Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Josephine Siccard-Redl, Schönbrunn

Zwei Sonette

von Kazimiera Zawistowska (1870–1902)

Ich liebe dich

Ich liebe dich, weil du mir wiedergibst die schönen
Lenztage meiner Jugend – jene goldnen Stunden.
Dein Schatten folgt mir immerfort – mir treu verbunden,
Und meine Seele ruft nach ihm mit bangem Sehnen.

Dass deine Arme mich nur eng und fest umschließen –
Verhüll die Augen mir, will nicht die Zukunft sehen,
Vergessen will ich alles, was mir je geschehen
Und selig liebe Zärtlichkeiten nur genießen.

Es ist heut kalt und dunkel … Gib mir deine Augen!
Sie sollen tiefer Träume Gärten mir erhellen,
Drin süße Klänge sind und Gold und Purpurwellen

Und – farbenreich umstrahlt – ein froher Hochzeitsreigen.
Es ist heut kalt und dunkel … Über mir entsteigen
Der bösen Ahnung Träume … Gib mir deine Augen! …

Gib deine Träume mir …

Gib deine Träume mir, die für mich glühten –
Dass ich erblick in ihrem Spiegelbilde
Die eigne Seele mein so still und milde,
Gleichwie des Silberreifes zarte Blüten.

Führ wieder mich in die kristallnen Weiten,
Dass dort, erweckt von deinen lieben Händen,
Sich all die zarten Töne wieder fänden –
Zu jenem Liede, das uns starb vor Zeiten …

Du wirst mich wieder so wie einstens sehen:
Und meiner Seele tote Perlen leben
Dann auf und werden leuchtend neu erstehen.

Die schönste Weile will ich deinem Leben
Dann geben – um ins Dunkel fortzugehen,
Dass wir uns niemals … niemals wiedersehen.


Übersetzung
Aus dem Polnischen von Lorenz Scherlag

Textnachweis
Ich liebe dich, aus: Czernowitzer Tagblatt, 30. Mai 1909, S. 17.
Gib deine Träume mir …, aus: Czernowitzer Tagblatt, 16. April 1911, S.15.
(Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga Wisinger-Florian, In Gedanken

Ein Augenblick

von Maryla Wolska (1873–1930)

Ein Duften rings … Es schweigt der Grillen Chor,
          Es welkt das Heu.
Und linde Winde quellen frisch hervor
          Und strömen herbei.

Ein stiller Geist, in Schweigen tief gehüllt,
          Blickt um sich stumm.
Das Glück irrt wie ein flüchtig Wunderbild
          Im Felde herum.

In unseren Herzen, heimlich still entfacht,
          Ein Wunder loht.
Und über uns stirbt der Tag so sacht
          Den glücklichen Tod.


Übersetzung
Aus dem Polnischen von Lorenz Scherlag

Textnachweis
Aus: Czernowitzer Tagblatt, 15. Mai 1910, S. 12. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Anna Gardell-Ericson, Sonnenaufgang über einer Landschaft mit Wasser

Die Nacht in der Mühle

von Louise Brachmann (1777–1822)

Wohl auf, wohl ab, durch Berg und Tal
Zog Ritter Willibald
Im Morgenrot, im Abendstrahl
Durch Busch und Flur und Wald.

Das Auge trüb, das Herz in Glut
Zog ihn die Liebe fort;
Er suchte sein verlornes Gut
Er fand’s an keinem Ort.

Verschwunden die Geliebte war,
Wohin? er nicht vernahm,
Als er zurück, nach Tag und Jahr,
Vom Krieg aus Welschland kam.

Nichts blieb ihm übrig als ihr Bild,
Das trug er auf der Brust,
Das strahlt ihm aus dem Auge mild
Noch einzig Trost und Lust.

So irrt’ er sonder Ruh noch Rast,
Die Seele bang und schwer;
So irrt’ er dreißig Monden fast
Nach ihr durch Land und Meer.

Und eines Abends, als er lang
Im Wald geritten war,
Da rauscht es ihm wie Wellenklang
Zum Ohr so wunderbar.

Er kam heraus, und glänzend wand
Ein Strom am Fels sich hin,
Und eine Mühle lag am Strand
Gar still im dunkeln Grün.

Fünf braune Tannen rauschten hoch
Am Felsen um ihr Dach;
An ihren Wänden scheidend noch
Der Abendstrahl sich brach.

Der Ritter hielt; gefesselt war
Sein überraschter Blick;
Ihm war, als hielte unsichtbar
Ein Geist ihn hier zurück.

Die Mühle lag so friedlich da
Und lud zur Herberg ein,
Sein Ross war matt, die Nacht war nah
Und rings nur Fels und Stein.

Zwar brauste dumpf der Strom und schwoll
Doch setzt’ er durch mit Mut,
Und kam zur Mühle jenseits wohl
Durchs Schaumgetös’ der Flut.

Er traf hier gute Herberg an;
Ein Stall ward für das Ross,
Für ihn ein Stübchen aufgetan
Im obersten Geschoss.

Indes begrüßten schon das Tal
Die Sterne nach und nach;
Und freundlich fiel der Mondenstrahl
In Willibalds Gemach.

Er trat ans Fenster hin; die Nacht
War schimmervoll und mild;
Am Berge stand in stiller Pracht
Des Mondes lichter Schild.

Und unten, dicht am Fenster schlang
Der Strom sich durch das Tal;
Dem Ritter ward es wohl und bang
Beim dumpfen Flutenschall.

Er zog ihr holdes Bild hervor
Und küsst’ es tausendmal,
Hing’s hoch dann an der Wand empor
Im bleichen Mondenstrahl.

Drauf warf er müd aufs Lager sich,
Doch ruhlos wacht’ er lang;
Und außen, horch! so schauerlich
Kam’s her wie Geistergang.

Und eine dämmernde Gestalt
Trat leis’ zur Tür herein;
Dem Ritter lief es heiß und kalt
Durch Adern und Gebein.

Es schlug sein Herz, sein Odem stand,
Ein Schauer weht’ihn an,
Als jetzt das Bildnis an der Wand
Mit leisem Laut begann:

»Gott grüß dich, schönes junges Blut!
Wie? find’ ich so dich hier?
Ich komme aus der tiefen Flut
Vom Stromgebraus’ zu dir!

Vergönnt ward mir noch diese Nacht
Einmal heraufzugehn.
Dann scheid’ ich, wenn der Hahn erwacht,
Zum Nimmerwiedersehn!«

»Aus tiefer Flut? vom Stromgebraus?
O sag Geliebte mein!
Wie, ruhst du dort im feuchten Haus?
Wie kamst du da hinein?«

»Ach lang schon ist’s, manch Jahr verschwand,
Da reiste wohl mit mir
Mein Vater hier durch dieses Land,
Wir hielten Mittag hier.

Es ruhten alle, Mann und Ross,
Nur ich mit stillem Sinn
Ging dort im Tale sorgenlos
Am Ufer her und hin.

Und sieh! da hob vom Stromgeroll
Die Nixe sich empor,
Ihr Lied so süß und sehnsuchtsvoll
Drang lockend mir ins Ohr.

Mir ward so wohl und ach so weh,
So wunderbar zu Sinn;
Da reichte sie mir weiß wie Schnee
Drei helle Lilien hin.

Und Rosen, rot wie Abendglut:
Ich Arme griff danach,
Und plötzlich, ach! in tiefer Flut
In ihrem Arm ich lag!

Sie trug hierher durchs Wasser mich
In ihrer Schwestern Saal;
Tief unterm Strome wölbt’ er sich
Mit Wänden von Kristall.

Du bist nun unser, hub sie an,
Mein Zauber schließt dich ein!
Nur von dem starken Bande kann
Die Liebe dich befrei’n.

Bewähret noch im sechsten Jahr
Sich deines Liebsten Treu,
So rein und heilig, als sie war:
Dann geh, dann bist du frei!

So sprach sie, und in Tränen schwer
Floss nun mein Leben hin.
Ich sahe nie den Himmel mehr
Und nie des Waldes Grün.

Mein Kummer zehrte still mich auf,
Und fast das Herz mir brach,
Ich seufzte nach der Zeit Verlauf,
Von der ihr Zauber sprach.

Nun ist die Zeit, nun wär’ ich frei
Von ihres Banns Gewalt.
Ach liebte mich so heiß und treu
Noch jetzt mein Willibald!«

»Ich liebe dich! ich fasse dich!«,
Fiel jetzt der Ritter ein,
»Dein Zauber ist gelöst durch mich,
Du bist auf ewig mein


Textnachweis
Aus: Auserlesene Dichtungen von Louise Brachmann, hg. v. Professor Schütz, Bd. 2, Leipzig 1824, S. 124–129. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Elizabeth Siddal, Dame, ein Fähnlein an der Lanze eines Ritters befestigend, um 1856

Ein armer Augenblick

von Helene Lassen (1858–1931)

Vor einigen Jahren im Juli kam ich an einem regnerischen Nachmittag zu einem unserer Gebirgssanatorien. Es hatte gerade einen Augenblick aufgehört zu regnen, und eine Masse Menschen strömten auf den Hof hinaus. Ein Maler hatte seine Staffelei hinausgeschafft, die Modelle aufgestellt und malte nun auf Tod und Leben, um den Augenblick, den es nicht regnete, zu benutzen, ohne sich darum zu bekümmern, was um ihn her vorging.

Ein bummlerhafter junger Mann von ungewöhnlich schwerem Körper und mit ein paar unförmlich weiten Beinkleidern hatte sich nonchalant bei der Treppe aufgestellt, indem er träge aus einer langen Pfeife dampfte und den Maler mit Kennerblick beobachtete, während er bald seine raschen Pinselstriche und bald die beiden kleinen blaugefrorenen Modelle betrachtete – hu, wie langweilig das alles hier oben in den Bergen war. Er sah sich nach einer Abwechslung um. Da kam rasch ein junges Mädchen im Regenmantel vorbei. Sie trug in der einen Hand eine Angelstange und ein irdenes Gefäß, mit der andern Hand hielt sie das für ihre Angeltour sehr unpraktische Kleid empor, der Kopf war in einer eigenen, schüchternen Weise geneigt, die Züge waren fein und der Ausdruck kindlich weich. Sie eilte schnell an der Malergruppe vorüber – o, da hakte der Angelhaken sich am Regenmantel fest. Sie blieb stehen und versuchte ihn loszumachen. Der Dicke setzte erstaunlich schnell seinen schweren Corpus in Bewegung und ging zu ihr hinunter, um ihr zu helfen. Unter Scherzen und Lachen bekamen sie den Haken los. Er begleitete sie weiter, und sie verschwanden unten beim Wasserfall, wo sie angeln wollte.

Ich bummelte eine Weile umher und traf dann meine Reisegefährtin, Frau L.

»Na, hast du dir schon das Publikum angesehen?«, fragte ich.

»Ja, hast du das hübsche junge Mädchen bemerkt? Fräulein Dahl heißt sie, Alma Dahl.«

»War das die, die eben angeln ging?«

»Jawohl. Ist sie nicht nett?«

»Ja, das ist sie in der Tat.«

In demselben Augenblick kam sie, gefolgt von ihrem Kavalier, mit ihrer Angelstange zurück. Frau L. ging zu ihr hin; sie hatten schon früher miteinander gesprochen.

»Na, haben Sie schon geangelt?«

»Ja, ich stand eine Weile mit meiner Stange unterhalb des Wasserfalls, aber ich bekam nichts.«

Sie sagte das so naiv, augenscheinlich gereizt über die Geduld, die dazu gehört, um Fische zu angeln. Ihr Kavalier stand neben ihr und blickte sie halb beschützend, halb unverschämt an.

Später kam sie wieder auf den Hof hinaus. Sie hatten den Regenmantel ausgezogen und trug eine hellblaue Blouse, die sie vorzüglich kleidete. Sowohl die Blouse als das lange Kleid sahen ganz neu aus; überhaupt machte alles, was sie anhatte, den Eindruck von etwas gerade Gekauftem, und als wenn es ihr Vergnügen bereitete, es anzuhaben. Aber sie stand gleichsam ein wenig hilflos allein in der Schar, als wenn sie nicht daran gewöhnt wäre, und ließ ihre dunkelblauen Kinderaugen mit den langen schwarzen Wimpern suchend zwischen all den Fremden umhergleiten. Eine Weile später entdeckte ich, dass sie mich mit neugierig interessiertem Gesicht anstarrte, und ich sah, dass sie Frau L., die neben ihr stand, etwas nach mir fragte. Ich ging zu ihnen hin. Frau L. stellte vor.

Da sagte sie mit weicher, angenehm gedämpfter Stimme:

»Ich habe Sie schon früher gesehen.«

Sie sagte das, wie wenn Kinder einem Fremden auf den Schoß springen und sagen: »Ich habe dich schon früher gesehen; auf der Straße!«

»Sie haben mich schon gesehen?«, erwiderte ich, »ich kann mich nicht entsinnen, Sie schon gesprochen zu haben.«

»Nein, ich habe Sie nur auf einem Bilde gesehen; aber ich erkannte Sie sogleich wieder.«

Und Sie begann von einem Gemälde zu erzählen, bei dem ich in der Tat zu einer Figur Modell gesessen hatte.

»Aber ich bin ja nur von der Rückseite gemalt?«

»Ja, aber ich kannte Sie doch sogleich an der Kopfform und dem Haar wieder.«

Sie schien in Künstlerkreisen ein wenig bekannt zu sein. Ob sie eine Art Künstlerin war? Ich fragte. Ja, sie hätte sich als Schauspielerin versucht, aber – es kam ein wenig zögernd – sie hätte so geringes Honorar bekommen. Jetzt nähte sie Handschuhe; aber dann wäre sie im Frühjahr so gefährlich erkrankt, so dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Daher müsste sie auf die Berge, hätte der Doktor gesagt, und nun habe ein guter Freund dafür gesorgt, dass sie den Sommer über hier oben wohnen und wieder gesund werden könnte. Und die großen kinderblauen Augen strahlten.

»Er kommt selbst später hier herauf.«

Und dann verschwand sie wieder unter den anderen Gästen.

Am Tage darauf war sie nicht wohl, man sagte, sie müsse zu Bette liegen. Auch zu Mittag kam sie nicht hinunter; aber am Nachmittag traf ich sie auf der Treppe, im Begriff auszugehen. Sie war verweint und sah betrübt aus.

»Sind Sie heute krank gewesen, Fräulein Dahl?«, fragte ich freundlich. Sie blickte dankbar zu mir auf.

»Ja, ich bin oft krank. Im Frühling war ich nahe dem Tode«, sie erschauerte leicht und sah mich bittend an, als wenn ich ihr helfen könnte, »ach, ich möchte so ungern sterben – und doch!«, sagte sie mit plötzlichem Ausbruch. Ich verstand, dass sie sich mit einer großen und geheimen Freude trug, mit etwas, was das Leben für sie reich machte, obgleich sie arm und krank war.

Sie setzte sich mit einem Strickzeug allein, ein wenig von den anderen entfernt, hin, und blickte über das Wasser hinaus.

Alle anderen vereinigten sich in Gruppen, verstanden einander und gehörten zu einander. Nur dieses junge Mädchen gehörte gleichsam nicht hieher, hatte seine eigene Welt für sich. Ich kam mit einer der Frauen, einer schönen jüngeren Dame mit der sicheren Haltung der Weltdame, ins Gespräch. Sie sprach mit großer Zungengeläufigkeit.

»Sagen Sie mir, gnädige Frau, haben Sie das junge Mädchen dort beachtet?« Sie zeigte auf Fräulein Dahl hin.

»Ja, ich habe mit ihr mehrmals gesprochen.«

Sie blickte mich fragend an.

»Haben Sie nicht das starke Parfum bemerkt, das sie benutzt?‘

»Ja, sie macht einen etwas simplen Eindruck, so dass sie wohl nicht zwischen feinen und einfachen Parfums zu unterscheiden vermag.«

Die Frau lächelte.

»Wissen Sie, was der junge Herr, der ihr überall nachgeht, gestern zu meinem Mann sagte? Ja, er sagte: Keine Dame gebraucht solches Parfum.«

»Sie meinen«, fragte ich erschreckt, »dies junge, naive Mädchen?«

»Ja, schön naiv! Sie ist ein Protegé von Herrn (sie nannte einen bekannten Namen aus der Hauptstadt), er bezahlt für sie hier oben, und voriges Jahr war er mit einer anderen hier.«

Ich fühlte mich sehr unangenehm berührt. Unwillkürlich sah ich nach ihr hin. Nun erhob sie sich und ging langsam fort, und es war mir, als warf sie uns einen misstrauischen Blick zu.

Am Tage darauf hatte ich keine Lust, mit ihr zu plaudern, näherte sie sich, so zog ich mich zurück, obgleich es mir leid tat, ihren scheuen und betrübten Blick zu sehen, den sie mir jedesmal nachsandte. Ich begriff, dass sie meine Freundlichkeit vermisste; warum konnte ich sie ihr also nicht gönnen? Wie herzlos wir »Damen« im Grunde genommen gegen unsere unglücklichen Schwestern sind! Sollte ich nicht doch mehr Mitleid mit ihr haben?

Und ich sah sie in Gedanken arm und krank drinnen in der Stadt sitzen und vom Morgen bis zum Abend Handschuhe nähen, und hörte dann mitten in dem hoffnungslosen Dunkel einen reichen jungen Mann sagen: Folge mir von all diesem fort; ich schenke dir gute Tage – ich gebe dir meine Liebe, vielleicht wird sie lange währen, lange – – Nein, was wussten wir Glückskinder der Gesellschaft davon, was die Versuchung ist?

Und der Gedanke an die kleine Alma verfolgte mich, noch nachdem ich von dort fortgereist war. Ich sah sie so deutlich vor mir, wie sie dort allein für sich war in der Menge mit ihren kindlichen blauen Augen und ihrer kindlichen blauen Blouse.

*

Eine Woche später saß ich am Fenster in meinem Zimmer und schrieb. Ich wohnte nun auf einem Hof weiter unten im Tal, wo die Straße vorbeiführte, und ich amüsierte mich oft damit, die Reisenden von und zum Sanatorium zu beobachten. Wagengerassel ertönte auf der Landstraße, und ich blickte empor.

O, da saß sie ja im Wagen, strahlend vor Freude! Denn nun war sie nicht mehr allein – er war gekommen! Sie war also den weiten Weg zum Dampfschiff hinuntergefahren, um ihn zu holen, und nun saß er hinten und fuhr sie – fuhr sie durch die schönen Reiche des Sommers, durch Wald und grüne Bäume, durch blumige Wiesen, vorbei an blinkenden Wassern und rieselnden Bächen, durch Vogelsang, durch Liebesverheißungen.

Es war nicht anders möglich, ich musste mich für sie freuen, obgleich es mich so schmerzlich berührte, dass ich wusste, es würde nur einen armen Augenblick dauern; wusste, dass sie die Blume war, die heute oder morgen ins Feuer geworfen wird. Und ich folgte ihnen mit den Augen, sah ihre gerade freudige Haltung. Es war, als wenn das Glück und die Ruhe über seine Anwesenheit sie geadelt, ihr die Frauenhaltung und die Sicherheit gegeben hätten, welche der Stempel der Gesetzlichkeit verleiht. Und dann sah ich ihn an – ferienfroh, die Jagdhunde hinter sich. – Nun würden die beiden leben!

Und ich wollte die Hand gegen ihn ballen, ihn Verführer und Betrüger nennen – aber die Hand sank nieder, denn die beiden sahen so froh aus, und die Freude entwaffnete mich.

Ich erhob mich und ging hinaus, sie hatten mich für heute verstimmt.

Das Thema hatte mich ergriffen, und ich sah das Ganze wie auf einem Gemälde: eine sommergrüne, duftende Wiese voll hellblauer Blumen – mutig und gerade stehen sie da. Und einzelne so schüchtern und halbgeschlossen. – Dann kommt der Jäger, er, den ich eben im hellgrauen Sportanzug ferienfroh mit den hinter ihm herstürmenden Hunden sah. Und er bleibt stehen und pflückt die schüchternen wie die kecken, die geneigten wie die geraden und lässt hinter sich einen Weg voll gebrochener, verwelkter, niedergetretener Blumen zurück.

*

Etwa vierzehn Tage später begleitete ich einige mir bekannte Touristen zum Sanatorium hinauf. Es war dort keiner von den früheren Gästen mehr da, sondern lauter neue Gesichter. Ich fragte nach den beiden. O, sie hatten sich eine Sennhütte dort oben gemietet, sie beide allein; sie hatten nur einen alten Mann mit, der sie auf die Jagd begleiten sollte und ihnen sonst ein wenig helfen; und man lächelte vielsagend zu diesen Erklärungen.

Wir wollten auf dem Bergsee fahren und setzten uns ins Boot.

Der See lag still, blank und träumend da. Die moosbekleideten, buntfarbigen Ufer fielen gegen das Wasser sanft herab; über ihnen ragten hohe, düstere Felsen empor, deren Spitzen vom Nebel verborgen waren; keine Sonne, kein Wind, nur träges Wohlbehagen.

Wir duselten hin, jeder in seinen eigenen Sorgen oder Freuden.

Da näherte sich ein Boot, das hinter einer Landzunge hervorkam. Wie deutlich es sich abzeichnete. Vorne saß ein junger Mann in hellgrauem Anzuge und angelte, mitten im Boot saß ein alter Mann und ruderte; aber im hinteren Teile des Schiffes lag, sorgfältig mit Decken und Shawls eingehüllt, ein Kind und schlief, so glaubten wir. Fein und weich zeichneten sich die Konturen des Kindes ab, keck und jugendlich die desjenigen, der angelte, alt und gebeugt die dessen, der ruderte. Ein schönes, stimmungsvolles Bild. Ich genoss es eine Weile, während wir uns dem Boote näherten. Da rührte sich das feine Köpfchen in dem Boote. Ach – es war kleine, blaue Alma; aber nicht so, wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte; wo war nun ihre stolze Freude? Warum legte sie sich wieder so müd, so todesmüde in das Boot zurück? Das Boot glitt weiter; aber ich wandte mich um und folgte ihm mit den Augen.

Und ich sah eine feine, wehmütige Linie von dem bloßen Kopf die Schulter hinunter, wo der Shawl herniedergeglitten war. Die Augen waren auf einen lichten Punkt droben auf der Berghalde gerichtet, auf ihre Sennhütte droben, sein und ihr kleines Sommerheim droben auf den Bergen.

Wie von unwiderstehlichem Drang getrieben, erhob sie eine Hand, eine schmale, bleiche, kleine Kinderhand, als wollte sie die Sennhütte in der Flucht ergreifen, sie festhalten, fest, denn das war ja ihr Schloss, ihr schönes Soria-Mosta-Schloss, wo kein anderer als sie und er wohnte, wo keine Blicke sie kalt und mit weltlichem Urteil bewachten, sondern wo nur die kleinen, bleichen Sommersterne spät, spät am Abend zu ihnen hineinguckten, wenn das Feuer auf dem Herde im Erlöschen war und er müde nach den Strapazen der Jagd dasaß und wie ein Regen von Rosen die zärtlichen, betörenden Worte über sie herabflüsterte!

Und das Boot glitt weiter, die Sennhütte entschwand, das Schloss verschwand, wie sie wusste, dass es wirklich verschwinden würde.

Sie blickte sich um. Zuerst hinauf nach den hohen, rauen Felsen; unwillkürlich sank sie zusammen. Die Linie vom Kopf über die Schulter wurde noch gebeugter, noch wehmütiger, denn die Felsen ähnelten den Menschen draußen in der Welt, den Menschen mit dem kalten, abweisend harten Blick. Und heute war keine Sonne auf dem Berge; keine Sonne, keine Sonne, plätscherte es düster um das Boot!

Sie blickte sich wieder um; ich wusste, es geschah nach Farben und Sonne.

Und ihr gleitender, suchender Blick traf die feinschattierten Moosflächen; aber es lag die kühle Reinheit der Berge darüber und stieß sie, die Unreine, zurück. Und der kindesblaue Blick – nein, er war nicht mehr kindesblau, denn er war vor der Trauer des erwachsenen Weibes verschleiert – glitt demütig zum Walde herab. Hatte auch er kein Mitgefühl mit ihr, keinen Schutz für ihren brennenden Schmerz? Düster stand er da mit der Einsamkeit des eingeschlossenen Bergsees, schwarzgrün und in Kirchenstimmung, heute mit keinen anderen Farben als dem ersten herbstgelben Hauch, der sie gerade heute so schmerzlich daran erinnerte, dass das Ganze nun bald ein Ende hatte. Wie im Märchen würde der Prinz und das Schloss und alles verschwinden! Selbst würde sie allein bleiben wie früher, arm wie früher.

Aber etwas würde ihr doch übrigbleiben, all die schönen Dinge, die er ihr gegeben!

Und ich glaube, sie lächelte wieder und ließ die Hand liebkosend über das warme, weiche Kleid herniedergleiten, das er ihr zum Winter geschenkt hatte, und den Shawl, den schönen, gestreiften Shawl, der weich und warm war wie seine Liebe! Und außerdem – noch waren ja vier Tage übrig, noch vier Tage droben auf dem Schloss!

Und ihre Augen öffneten sich weit und blickten nach ihm in dem hellgrauen Anzug hin. Wie flott und frisch und licht er aussah! Nun nickte er ihr munter zu, während er eifrig die Schnur einzog – ein Fisch hatte am Haken angebissen!

Und ihre Augen wurden wieder kindesfroh und kindesklar. Sie richtete sich halb im Boot empor und warf den Kopf mutig zurück. Noch hatte er sie ja nicht fortgeworfen, noch war sie ja die Blüte, die lebt und duftet – noch, noch einen kurzen Augenblick.

*

Einige Tage später begegnete ich ihm im Wagen auf der Straße. Er war auf der Heimfahrt – die vier Tagen waren vorüber.

Es war ein kühler, herbstlicher Morgen, und er sah aus, als wenn er fror, wie er da in dem Wägelchen neben dem Postillon saß. Er fuhr auf, als er jemandem auf der einsamen Straße begegnete; er lüftete rasch den Hut und verschwand bei einer Biegung. Die Jagdhunde trabten hinterher.

Es war eine kurze Begegnung, aber ich sah so viel in dem kurzen Augenblick.

Ich sah, er war bleich, nicht nur von der Morgenkälte, sondern von den Tränen der kleinen Alma. Die Blässe der Trennung lag über seinen Zügen. Ich sah, er hatte gelitten, ja er litt sogar noch jetzt.

Auch diesmal hatte ich die Hand geballt, auch diesmal sank sie nieder. Jetzt war es sein Schmerz, der mich entwaffnete, wie es das letzte Mal seine Freude war.

Und während ich still zwischen all dem herbstgelben Laub heimging, welches erzählte, dass nun der Sommer vorbei wäre, dachte ich an sie, die wieder allein dort oben saß auf einem kleinen grünen Fleck im Walde.

Wieder ergriff mich das Thema; nicht künstlerisch wie das letzte Mal, sondern menschlich; ich hatte keine Lust, die kleinen hellblauen Blumen zu malen, welche der Sportsmann niedertritt; heute wollte ich lieber für sie bitten. Wie einen Lichtpunkt sah ich seine bleichen Schmerzenszüge, und ich schloss wie im Gebet: Möchte das Leid ihn Barmherzigkeit lehren, Barmherzigkeit gegen sie dort oben und gegen diejenigen, denen er noch auf seinem Wege begegnen würde! Möchte das Leid ihn lehren, dass das Leben etwas mehr ist als ein armer Moment, ein armer Augenblick der Freude!


Übersetzung
Aus dem Norwegischen von Ernst Brausewetter

Textnachweis
Aus: Wiener Rundschau, Bd. II, Nr. 22, 1. Okt. 1897, S. 829–835. (Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Oda Krohg, Japanischer Lampion, 1886

Drei Gedichte

von Ricarda Huch (1864–1947)

Einsamkeit

Du neigtest, Herz, dich gern, wie sich die Birke neigt,
Dem Nachbarstamme zu.
Steh aufrecht, wie die Tanne trotzig steigt:
Allein bist du.

Wohl strömt ein jedes Ding des eignen Wesens Hauch
Den andern Dingen ein;
Doch will ihr Sehnen überfließen auch,
Sie sind allein.

Schlaft ihr umarmt auf einem Kissen, ihr erwacht
Wie Sonnen fern im Raum;
Nur dass ihr einmal träumt vielleicht bei Nacht
Den gleichen Traum.

Sei deine Welt, dein Stern; beglückt, wenn deine Glut
Am goldnen Leben schafft,
und ford’re nichts. Dir wird kein andres Gut
Als deine Kraft.

Herbst

Die gelben Blätter, wandernd in den Flüssen,
Des Glückes Überfluss, das ich besessen,
Die Küsse, die nun andre Lippen küssen –
Es ist nichts als Erinnern und Vergessen.
Wär’ wieder mein, was mir so lieb gewesen,
Grünte der Wald noch, den der Herbst geräumt,
Bald wär auch das vorbei und kaum geträumt.
O Herz, rings braust das ew’ge Licht Genesen!

Der Augenblick

Du schwebst, o schöner Augenblicke
Melodischer, geschürzter Tanz,
Um meine Rast, und die Geschicke
Drangvollen Lebens weichen ganz.

Ihr löst mich von der heil’gen Kette
Vergangner Tat und künft’ger Frucht,
In flammumstürmter Zufluchtstätte
Versinkt des Sklaven sel’ge Flucht.

Vertauscht die Jahre, mischt die Räume,
Betaut mich mit Vergessenheit!
Schwingt eure schlangenschnellen Säume:
Der Ring wird weit und weltenweit;

Traum wird Gestalt und nah wird ferne
In Zauberkreisen trunknen Lichts –
So blitzt die Ewigkeit der Sterne
Spurlos erlöschend durch das Nichts.


Textnachweis
Einsamkeit, aus: Neues Frauenleben, XXIII. Jahrg., Jänner 1911, Nummer 1, S. 26.
Herbst, aus: Neues Frauenleben, XXIV. Jahrg., Februar 1912, Nummer 2, S. 54.
Der Augenblick, aus: Neues Frauenleben, XXIV. Jahrg., September 1912, Nummer 9, S. 245.
(Die Orthografie wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst, die Interpunktion behutsam modernisiert. Offensichtliche Satz- und Druckfehler wurden stillschweigend ausgebessert.)

Titelbild
Detail aus: Olga_Boznańska, Landschaftsmotiv, um 1890

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